Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

160 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. 28.—29.) 
kann uns wehren, diese ferne Zukunft nach unserem Gefallen uns auszu- 
malen. An der freudigen und vollen Erfüllung unserer staatsbürgerlichen 
Pflichten wird dieses Zukunftstraumbild uns nicht hindern. Was Herr 
v. Koscielski in Lemberg gesagt, mag wenig geschickt gerade von ihm und 
gerade an der Stelle gewesen sein, wo er gesprochen hat; doch die mit un- 
zulänglichem Bedacht gewählten Worte schaffen die Thatsache nicht aus der 
Welt, daß die polnischen Abgeordneten in den wichtigsten Fragen, bei der 
Heeresverstärkung im vergangenen Jahre, bei dem deutsch-russischen Handels- 
vertrage in diesem Jahre, der Regierung ihre zum teil unentbehrliche Unter- 
stützung gewährt haben. Die unvernünftigen polenfeindlichen Agitationen, 
die sich jetzt regen, können nur dazu dienen, uns diese Haltung zu er- 
schweren und am letzten Ende sogar unmöglich zu machen. Der Klerus 
steht treu zu seinem Erzbischof, und die Opposition im eigenen Lager wagt 
sich noch nicht offen heraus. Niemand aber kann hindern, daß bei jeder 
Unfreundlichkeit, wie wir erfahren, der polnischen Bevölkerung gesagt wird: 
„Da seht ihr, welchen Dank ihr für die geleisteten Dienste und für die 
Opfer erntet, die eure Vertreter haben bringen helfen.“ Der Sozialismus, 
den wir so lange glücklich von uns ferngehalten haben, klopft vernehmlich 
an unsere Thore, und wir erkennen ihn wohl, auch wenn er sich in das 
häßliche Gewand des Antisemitismus hüllt, der überall nur ein Geschäft 
und ein Vorwand für selbstische Sonderzwecke ist. Solche Unfreundlichkeit 
ist es, wenn eine Zusage, betreffend den Unterricht in polnischer Sprache, 
so erfüllt wird, daß wir als die Dupierten erscheinen, wofür ich übrigens 
nicht den Kultusminister selbst verantwortlich mache; solche Unfreundlichkeit 
ist es, wenn ringsher fünfzig evangelische Diakonissenhäuser sich erheben 
— was ich sehr lobenswert finde —, der Errichtung von katholischen 
Schwesternhäusern aber Schwierigkeiten bereitet werden, die, wo überhaupt, 
nur mit großem Zeitverlust sich beseitigen lassen. 
Auch die polnische Propaganda in Oberschlesien, über die man sich 
beklagt, ist nicht unser Werk, sondern die Frucht dieser falschen Politik. 
Ohne die Maßnahmen des Herrn v. Bitter in Oppeln, durch die die pol- 
nische Propaganda dort künstlich groß gezogen worden ist, wäre es nie so 
weit gekommen, wie geschehen. Dürften die Agitatoren nach ihrem Herzen 
handeln, sie würdem dem Regierungspräsidenten in Oppeln ein Standbild 
errichten zum Dank für die Dienste, die er ihnen thatsächlich geleistet. Ich 
verwerfe die polnische Propaganda in Oberschlesien, denn in diesem Gebiet, 
das staatsrechtlich seit fünf oder sechs Jahrhunderten von Polen getrennt 
ist, zu einer Zeit also, da es ein Nationalgefühl in unserem Sinne über- 
haupt nicht gab, ist für das Erwecken eines polnischen Nationalgefühls in 
unseren Tagen keine Berechtigung vorhanden. Doch ich kann diese Pro- 
paganda unter den obwaltenden Umständen begreifen, und eben die Ver- 
treter der polenfeindlichen Politik sind es, die mir die Hände binden, so 
daß ich nicht hindern kann, was in Oberschlesien geschieht.“ 
28. September. (Preußen.) Verbot des dänischen Sprach- 
unterrichts in Nordschleswig. 
Es wird eine Entscheidung des Kultusministers vom 8. Juli d. J. 
veröffentlicht, die das von 77 Geistlichen unterzeichnete Gesuch, in den nord- 
schleswigschen Volksschulen dänischen Sprachunterricht einzuführen, 
ablehnt. (Vgl. Brix, Preuß. Jahrbb. Bd. 78.) 
29. September. (Preußen.) Wechsel im Oberpräsidium von 
Schlesien. 
Oberpräsident von Seydewitz tritt in den Ruhestand, sein Nach-
	        
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