Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

166 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 23.—25.) 
Anwesend sind ungefähr 250 männliche und weibliche Delegierte aus 
Deutschland, Oesterreich, der Schweiz und England. 
Es wird beantragt (von Legien-Hamburg), die Gehälter der Partei- 
beamten und Redakteure zu reduzieren und das Maximum auf 3000 M. 
festzusetzen. Abg. Bebel führt gegen den Antrag aus, solange man in 
der bürgerlichen Gesellschaft lebe, müsse man die geistigen Arbeiter, die aus 
der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangen seien, besser bezahlen, um sie 
der Partei zu erhalten. Nach heftiger Debatte wird der Antrag abgelehnt. 
Großen Raum beansprucht die Debatte über die Haltung der 
Landtagsfraktionen. Der badische Abg. Dr. Rüdt wird wegen seiner 
Abstimmung für die Zulassung von religiösen Orden scharf getadelt, ebenso 
bezeichnet Bebel die Bewilligung des bayerischen Budgets (s. S. 125 u. 
S. 161) für programmwidrig und beantragt ein Mißtrauensvotum gegen 
die bayerische Landtagsfraktion. Abg. v. Vollmar (München) erklärt, die 
bayerischen Genossen hätten mit dem Budget eine Anzahl Kulturaufgaben 
bewilligt, also nicht gegen die Parteiprinzipien verstoßen. Die Abgg. Bebel 
und Auer sehen in jeder Bewilligung von Mitteln, die zur Aufrechterhal- 
tung der bürgerlichen Gesellschaft dienten, eine Prinzipienverletzung. Grillen- 
berger (Nürnberg) wird einen derartigen Beschluß des Parteitages, nicht 
anerkennen. Nach längerer sehr gereizter Diskussion wird der Antrag Bebel 
abgelehnt. 
In der Beratung über die Stellung der Partei zur Agrarfrage 
bezeichnen die Abgg. Schönlank und v. Vollmar es als notwendig, die 
Landarbeiter für die Sozialdemokratie zu gewinnen, da ohne die Land- 
bevölkerung die Sozialdemokratie niemals die politische Macht erobern, 
bezw. eine wirtschaftliche Umwälzung bewirken könne. Man müsse ein agrar- 
politisches Programm aufstellen, das die dem Bauern wie dem Landarbeiter 
in der heutigen Gesellschaftsordnung zu verwirklichenden Forderungen des 
Erfurter Programms in einer verständlichen Weise darstelle. Es wird dazu 
eine Agrarkommission von 15 Mitgliedern eingesetzt. 
Für die Maifeier 1895 wird beschlossen, daß nur die Arbeiter, 
die keinen wirtschaftlichen Nachteil davon zu befürchten hätten, die Feier 
begehen sollten. Ueber die Stellung der Partei zur Religion wird der Satz 
des Programms „Religion ist Privatsache“, nachdem mehrere Abände- 
rungsanträge abgelehnt sind, beibehalten. 
In seiner Schlußrede betont der Vorsitzende, Abg. Singer, der 
Parteitag habe wiederum von der Einigkeit der Partei ein glänzendes 
Zeugnis abgelegt. 
23.—25. Oktober. (Liebenberg.) Jagdaufenthalt des Kai- 
sers in Liebenberg in der Uckermark bei Graf Eulenburg, deutschem 
Botschafter in Wien. 
23. Oktober. (Bayern.) Feierliche übergabe der den bayeri- 
schen Halbbataillonen verliehenen Fahnen (vgl. 18. Okt.). 
25. Oktober. (Umsturzfrage.) Ministerkonferenz. Ca- 
privi — Eulenburg. 
Auf Veranlassung des Reichskanzlers findet in Berlin eine Zusammen- 
kunft der stimmenführenden Minister der Einzelstaaten statt zur Beratung 
der vom Reiche zu ergreifenden Maßregeln gegen den Umsturz. Es wird 
angenommen, daß Caprivis Ansicht gegen die Eulenburgs durchgedrungen 
sei. Der Kaiser soll bereits am 23. vor der Abreise nach Liebenberg sich 
für den Standpunkt des Reichskanzlers erklärt haben. („Köln. Ztg.“)
	        
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