6 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.)
nicht von dem Zoll auf ausländische Waren betroffen, die hauptsächlich
einheimische konsumieren. Abgesehen hiervon, stehen dieser Mehrbelastung
der deutschen Bevölkerung auch bedeutende Entlastungen gegenüber. Nach
einer von mir an der Hand der Statistik angestellten Berechnung beträgt
die Arbeiterbevölkerung in Deutschland von den 50 Millionen Einwohnern
etwa 24 Millionen. Seit 1879 find nun 367 Millionen neue indirekte
Abgaben erhoben worden. Dem stehen gegenüber 20 Millionen Mark, um
welche Massenartikel von Lebensmitteln billiger geworden sind. Für die
soziale Gesetzgebung werden von seiten des Reiches und der Arbeitgeber
über 147 Millionen Mark jährlich aufgebracht, eine Leistung, die doch
lediglich den ärmeren Bevölkerungsklassen zu gute kommt. In dieser Zahl
sind nicht einbegriffen die erheblichen Ausgaben für die Verwaltungskosten.
Ferner ist es unbestreitbar, daß sich die Lebenshaltung der arbeitenden
Bevölkerung seit 1879 ganz erheblich gehoben hat, und zwar infolge wesent-
licher Lohnerhöhungen, diese werden aber von den wohlhabenderen Klassen
bezahlt. Nach den Berechnungen für die Invaliden- und Altersversicherung
sind die Durchschnittslöhne von 1892 gegenüber 1891 gestiegen. Nach der
Statistik der Bahnarbeiter, der geringwertigsten Arbeiter, die überwiegend
ihre Arbeit auf dem platten Lande leisten, sind die Löhne derselben von
1880 bis jetzt um 17 pCt. gestiegen. Daß die Löhne der landwirtschaft-
lichen Arbeiter gestiegen sind, ist eine notorische Thatsache, und gerade in
dieser Steigerung liegt zum großen Teile der Rückgang des Reineinkommens
aus der Landwirtschaft im Osten; bei diesen sind die Löhne von 1889 bis
1893 um 33 pCt. gestiegen. Die Löhne der industriellen Arbeiter sind zum
Teil um 70 pCt. gestiegen. Einen interessanten Anhalt für die Steigerung
des Jahres-Einkommens der arbeitenden Klassen gibt die Lohnstatistik der
gewerblichen Unfallversicherung, obgleich die Arbeiter, die mehr als 44 M.
pro Tag verdienen, nur zum Teil darin enthalten sind. Darnach betrug
1887 das Durchschnittseinkommen der gewerblichen Arbeiter 618 M., 1892
648 M., also auch hier im Laufe von 5 Jahren eine Lohnsteigerung um
5 pCt. Nimmt man das Durchschnittseinkommen von allen Arbeitern auf
nur 500 M. an, und nimmt man an, daß die Löhne seit 1879 um 16 pCt.
gestiegen sind, so bedeutet das für die in der Versicherungsstatistik nachge-
wiesenen 12½ Millionen Arbeiter eine Lohnsteigerung von 80 M. pro Kopf,
d. h. einen Gesamtbetrag von einer Milliarde. Was will demgegenüber
eine Steigerung der indirekten Belastung von etwa 7½ M. pro Kopf sagen?
Dieser Belastung stehen aber 454 Millionen Steuererlaß im Reich aus den
durch Erhöhung der Zölle flüssig gemachten Mitteln gegenüber. Zieht man
hiervon die seit 1879 in den Einzelstaaten eingetretenen neuen Steuern und
Steuererhöhungen mit 95 Millionen ab, so bleibt immer noch ein Steuer-
erlaß von 359 Millionen für diese ganze Zeit und von 42 Millionen pro
Jahr, wovon auf die Arbeiterbevölkerung etwa 29 2/3 Millionen entfallen.
Es macht sich in gewissen Kreisen die Tendenz geltend, es so darzustellen,
als ob die arbeitenden Klassen an dem Staat und seiner Organisation gar
kein Interesse hätten, als ob eigentlich der Staat nur eine Art Versiche-
rungsanstalt für die besitzenden Klassen ist. (Zuruf bei den Sozialdemo-
kraten: Ist er auch!) Die Reichsregierung fordert die Erhöhung der Steuern
in erster Linie für die Vermehrung des Reichsheeres zur Erhaltung des
Friedens, und an der Erhaltung des Friedens hat der Arbeiter ganz ebenso
ein Interesse wie der Großfabrikant und Großgrundbesitzer. Früher hieß
es nur, die unteren Klassen dürften nicht weiter belastet werden, jetzt
sollen auch die mittleren Klassen nicht weiter belastet werden. Ja, wer
soll denn in Deutschland eigentlich noch Steuern zahlen und wer soll die
Staatsbedürfnisse aufbringen? (Unruhe links.) Wollte man die erhöhten