192 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 11.)
auch diejenigen Herren, die auf dem Standpunkt stehen, man solle die Bi-
lanz zwischen Ueberweisungen und Matrikularbeiträgen nicht herbeiführen
durch neue indirekte Steuern, sondern solle es ruhig den Einzelstaaten über-
lassen, ihre Matrikularbeiträge weiter aufzubringen und sie dadurch dazu
nötigen, steigende Einkommensteuern zu erheben — meine Herren, ich glaube,
die Herren, welche diese Ansicht haben, gehen einen falschen finanzpolitischen
Weg, denn dann wird man sehr bald zu einem Prozentsatz der Einkommen-
steuern kommen, der nicht mehr gesteigert werden kann, und man wird
vielleicht im Deutschen Reich zu einem Mittel greifen, das Ihnen äußerst
unsympathisch sein würde, aber das bis jetzt alle Staaten angewandt haben,
die nicht rechtzeitig ihre Finanzreform auf eine gesunde gesetzliche Grund-
lage gestellt haben, d. h. man wird im Moment der Not zu kräftigen Staats-
monopolen seine Zuflucht nehmen. Man mag aus den Erfolgen der Finanz-
wirtschaft des laufenden Jahres deduzieren so günstig wie man will, man
mag günstigere Folgerungen für den Etat des Jahres 1895/96 ziehen, so
wird man doch zu der Ueberzeugung kommen, daß gerade, wenn man eine
Finanzreform, eine Gesundung unserer Reichsfinanzen auf gesetzlicher Grund-
lage wünscht, ein Zeitpunkt steigender Einnahmen der geeignete dazu ist.
Gerade steigende Einnahmen bieten die Möglichkeit, mit verhältnismäßig
geringen neuen Steuerforderungen die Lücke zwischen Ueberweisungen und
Matrikularbeiträgen ausfüllen zu können. Wartet man aber ab, bis diese
Spannung eine sehr große ist, dann befürchte ich, meine Herren, werden
wir zu einer Finanzreform nie mehr kommen, weil es nicht möglich sein
wird, ohne sehr tiefgreifende, einschneidende Steuermaßregeln die Summe
noch zu beschaffen, die notwendig ist, um einerseits die Spannung zwischen
Matrikularbeiträgen und Ueberweisungen auszufüllen und andrerseits ein-
mal mit einer Schuldentilgung zu beginnen. Die verbündeten Regierungen
geben sich der Hoffnung hin, daß Sie bei der sachlichen Prüfung des Etats
sich diesen Gesichtspunkten nicht verschließen werden.
Abg. Bachem (Z.) und Abg. Richter (frs. Vp.) polemisieren gegen
die Ausführungen des Schatzsekretärs über die Reichssteuerreform; über den
Kanzlerwechsel sagt Abg. Richter: Welches sind denn nun die Gründe
gewesen, die zu dem Kanzlerwechsel geführt haben? (Heiterkeit.) Daß es
keine privaten Gründe gewesen sind, unterliegt keinem Zweifel; es sind
Gründe politischer Natur. Daß es nicht Gründe waren, die mit parla-
mentarischen Beschlüssen zusammenhängen, unterliegt auch keinem Zweifel;
denn Graf Caprivi hat sich seit der Wahl dieses Reichstages stets in den
wichtigsten Beschlüssen die Zustimmung der Mehrheit des Hauses erworben.
Die Gründe liegen, nach dem, was bisher bekannt geworden ist, in den
Verhandlungen, die gepflogen wurden bei der Vorberatung der Umsturz-
vorlage. Nun ist darüber bekannt geworden, daß Graf Caprivi sich der
Zustimmung des gesamten preußischen Ministerrates in Bezug auf die Grund-
lagen der Vorlage, mit Ausnahme des Ministerpräsidenten, erfreute. Es
ist weiter bekannt geworden, daß am folgenden Dienstag die Zustimmung
der Krone zu den Grundlagen der Vorlage erklärt wurde. Es ist weiter
bekannt, daß am folgenden Donnerstag die leitenden Minister der übrigen
deutschen Staaten ebenfalls sich mit den Grundlagen einverstanden erklärt
haben. Und gleichwohl ist am folgenden Freitag, innerhalb 24 Stunden,
der Kanzlerwechsel erfolgt, der Rücktritt eines Ministers, der, wie kaum
irgend jemals ein Staatsmann, sich gerade in dieser entscheidenden Frage
der Zustimmung aller maßgebenden Faktoren zu erfreuen hatte. Man sagt,
ein ungeschickter Zeitungsartikel, den Graf Caprivi selbst von sich wies,
den aber zu dementieren er sich nicht entschlossen habe, habe den Wechsel
herbeigeführt. (Heiterkeit.) Nun kann ich mir denken, daß in der Redaktion