Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12.) 193
einer Zeitung ein einziger Artikel einen Wechsel zur Folge haben kann
(Heiterkeit), aber mein Auffassungsvermögen reicht dafür nicht aus, daß ein
ungeschickter Zeitungsartikel einen solchen Wechsel in der Politik dem In-
lande und dem Auslande gegenüber, in der wichtigen, verantwortlichen
Stellung des Reichskanzlers verursachen kann. Vielleicht ist Herr v. Böt-
ticher, der die Gegenzeichnung vollzogen hat, in der Lage, uns die Gründe
für den vollzogenen Kanzlerwechsel anzugeben. (Große Heiterkeit.)
Im folgenden spricht sich der Redner anerkennend über die Ver-
einigung des Ministerpräsidiums mit dem Reichskanzleramt aus. Auf die
Umsturzvorlage eingehend, behauptet er, Graf Eulenburg habe während der
Vorbereitung des Gesetzentwurfs Vorschläge gemacht, die nur im Wege des
Staatsstreichs und Eidbruchs durchgesetzt werden könnten.
Staatssekretär Dr. v. Bötticher erklärt, über die Gründe der Ent-
lassung Caprivis nichts mitteilen zu wollen, denn sagt er, nach Art. 15
der Verfassung hat der Kaiser das Recht, den Reichskanzler zu berufen,
und jeder im Lande, also auch die Mitglieder dieses Hauses, einfach die
Pflicht, von der Ernennung Kenntnis zu nehmen. (Beifall rechts.) Im
übrigen aber, wenn der Abg. Richter, zwar heute nicht, aber in seiner
Presse früher darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Frage bestritten
werden könnte, ob, wenn der Reichskanzler entlassen werden soll, der Stell-
vertreter desselben berufen sei, die Entlassungsordre zu kontrasignieren, so
bin ich einigermaßen erstaunt darüber gewesen, daß dies überhaupt zweifel-
haft werden könnte. Die Argumentation, welche dafür angegeben wird, ist
die, daß man sagt: Wenn der Reichskanzler aufhört zu existieren, so ist
dies auch in Bezug auf seinen Stellvertreter der Fall. Das ist aber grund-
falsch, denn nach dem Stellvertretungsgesetz ist der Stellvertreter Vertreter
einer dauernden Funktion, und dieselbe wird fortgeführt, gleichviel, ob der
Reichskanzler, der die Ernennung gegengezeichnet hat, im Amte bleibt oder
nicht. Die Aeußerung über den Grafen Eulenburg weist der Staatssekretär
zurück; dessen Anträge wären durchaus gesetzmäßig gewesen und hätten höch-
stens eine Reichstagsauflösung in Aussicht genommen.
12. Dezember. (Reichstag.) Etatsberatung. Kanzlerwechsel,
Sozialdemokratie, Schutz der Landwirtschaft.
Abg. v. Kardorff (D. Rp.) spricht dem Reichskanzler sein Vertrauen
aus und polemisiert gegen Abg. Richter. Ueber den Kanzlerwechsel sagt er:
Wenn der Reichskanzler und der Ministerpräsident von Preußen zu gleicher
Zeit ihr Amt niederlegen, so ist es nach meiner Ansicht aus konstitutionellen
Gründen nötig, daß das gesamte Ministerium dem Monarchen ihre Porte-
feuilles zur Disposition stellt, ferner auch deshalb, damit die Freiheit der
Krone in ihren Entschließungen gewahrt wird.
Abg. Rickert (frs. Vgg.) will keine neuen indirekten Steuern be-
willigen; er tadelt die hohen Ausgaben für die Kolonien und die Marine
und stellt die Lage der Landwirtschaft als keineswegs bedenklich dar, worauf
Schatzsekretär Graf Posadowsky und Abg. v. Manteuffel (kons.) erwidern
und die Notwendigkeit, einen kräftigen Bauernstand zu erhalten, betonen.
Abg. Liebknecht (Soz.) führt aus, das Sitzenbleiben der Sozialdemokraten
beim Hoch auf den Kaiser sei nicht ohne Beispiel und den Prinzipien seiner
Partei angemessen. Im folgenden bezeichnet der Redner es als unwürdig,
daß man nichts von den Gründen des Kanzlerwechsels erfahre und verwahrt
die Sozialdemokratie gegen den Vorwurf, die anarchistischen Attentate, die
allein von Irrsinnigen unternommen seien, hervorgerufen zu haben. Er
polemisiert gegen die Kolonialpolitik, die neuen Steuern und schließt nach
der Versicherung, daß die Annexion Elsaß-Lothringens die Schuld an der
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXV. 13