Sie Gesterreichisch-Angerische Monarchie. (April Ende—Mai 10.) 209
Ende April. (Ungarn.) Unruhen.
Es finden Unruhen unter der ländlichen Arbeiterschaft und unter
dem Proletariat von Hodmezoe Vasarhely statt, die auf die schlimme ma-
terielle Lage der Arbeiter und sozialistische Umtriebe zurückgeführt werden.
Es wird behauptet, daß für den 1. Mai ein blutiger Putsch geplant war.
1. Mai. (Wien.) Viele Volksversammlungen fordern das
allgemeine Wahlrecht.
7./10. Mai. (Pest.) Magnatenhaus. Ablehnung der kirchen-
politischen Vorlage.
Fürstprimas Kardinal Vaszary: Er müsse aus dogmatischen Gründen
das Zivilehegesetz ablehnen, welches die Lehre der Kirche über die Unlöslich-
keit der Ehe und deren sakramentalen Charakter negiere; er habe dem Papst
und dem König Treue geschworen; durch die Ablehnung der Regierungs-
vorlage werde er dem Vaterlande nicht untreu werden, wohl aber durch die
Annahme der Kirche. Justizminister Szilägyi betont die Souveränetät
des Staates auf dem Gebiete der Zivilgesetzgebung, daher auch hinsichtlich
des Eherechts und widerlegt die Argumente des Kardinals Vaszary, indem
er erklärt, das Gesetz über die Zivilehe verletze keinerlei Dogmen und ent-
halte keinen Gewissenszwang, biete vielmehr Garantien für die Reinheit
und Heiligkeit des Ehelebens. Die Lösung der Ehe sei oftmals besser und
heilbringender, als das eines jeden sittlichen Wertes entbehrende Zusammen-
leben der Ehegatten. Der Minister verweist auf Belgien und Frankreich,
wo die Zivilehe seit langem eingeführt ist. Er verwahrt sich gegen den
Vorwurf, daß die Vorlage auf protestantischer Basis stehe. (7. Mai.)
Patriarch Brankowitsch (Serbe): Seine Kirche erkenne nur die
von einem Priester geschlossene Ehe an; von Gewissensfreiheit könne nicht
die Rede sein, wenn der Staat gute Christen zur bürgerlichen Form der
Eheschließung zwinge. Graf Stephan Keglevich weist die Berechtigung
des Staates zu dieser Reform aus der geschichtlichen Entwicklung des Ehe-
rechts nach und meint, es werde sich eine Reform des Magnatenhaufes als
notwendig erweisen, wenn dasselbe sich dem einmütigen Willen der Nation
entgegenstelle. Die schroffe Zurückweisung der versöhnlichen Haltung der
Regierung bei den Vorunterhandlungen seitens der Kirche habe die öffent-
liche Meinung veranlaßt, mit elementarer Gewalt für die Reform sich zu
äußern. (8. Mal.)
Der protestant. Bischof Szasz spricht für die Vorlage. Banus Graf
Khuen: Er werde für die Vorlage stimmen, obwohl er sich bewußt sei,
daß die Einführung dieser, wie jeder Reform, mit einer gewissen Erschütte-
rung verbunden sein werde; die Nichtannahme der Vorlage würde nur die
peinliche Lage verlängern. Bei der Durchführung müßten alle Faktoren
vereint über die Schwierigkeiten des Augenblicks hinweghelfen. Der ru-
mänische Metropolit Miron Roman gegen die Vorlage. Justizminister
Szilágyi: Die Vorlage bezwecke die Herstellung einer Rechtseinheit der
verschiedenen Nationen und Kirchen; sie verfolge auch nicht das Ziel, die
einzelnen Nationalitäten zu Gunsten der ungarischen Sprache zu unter-
drücken, sie bezwecke nur die Schaffung einer politischen Einheit. (Lebhafter
Beifall.) Die Vorlage ziele ferner nicht auf die Verminderung der Reli-
giosität ab. Die Pflege der inneren Religiosität sei Sache der Kirche. Ein
Staat, der die Rechte der Kirche achtet, könne nicht seine Macht zur Durch-
führung der inneren Rechte der Kirche leihen. Schätze, welche die Kirche
mit dem Machtgebot des Staates sammele, seien falsches wertloses Klein-
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXTXV. 14