Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

226 Bie Gesterreichisch-Augzarische Menarchie. (September 17.) 
Es ist daher unser Verhältnis zu Serbien ein befriedigenderes, als es vor 
1½ Jahren war, und ich bin erfreut, einen Fortschritt in dieser Hinsicht 
konstatieren zu können, der uns hoffen läßt, daß bei dieser Richtung, welche 
man in Belgrad eingeschlagen hat, unsere Wechselbeziehungen auch noch 
weitere Fortschritte machen werden, wie dies unseren wohlwollenden Ge- 
sinnungen gegen Serbien entsprechen würde. Was Bulgarien anbetrifft, so 
hat der Herr Referent die letzten Ereignisse als eine Ueberraschung oder 
förmlich als eine Täuschung charakterisiert. Man hat vielleicht die dortigen 
Verhältnisse bei uns allzu optimistisch aufgefaßt, und es ist nun in dieser 
Beziehung ein Rückschlag eingetreten, der wieder zu weit geht, und zwar 
deshalb, weil die Verwirrung, die durch den unvorbereiten Umschwung ein- 
trat, noch nicht soweit geklärt ist, daß man sich ein richtiges Bild der Zu- 
stände zu machen vermöchte. Man hatte sich in Europa daran gewöhnt, 
die Stabilität, welche in Bulgarien durch die feste Hand Stambulows ein- 
getreten war, als eine bleibende Thatsache zu betrachten, und hat infolge- 
dessen geglaubt, daß die inneren Verhältnisse Bulgariens solchen plötzlichen 
Ueberraschungen entrückt seien, wie sie sonst in jenen Ländern nicht unge- 
wöhnlich zu sein pflegen. Leider zeigt es sich auch dort, daß, wenn poli- 
tische Krisen eintreten, die mit großer Leidenschaft aufgefaßt werden und 
zum Parteihader führen, der sogar in Exzesse ausartet. Wir haben in 
allen Balkanländern gesehen, daß der Schritt von der Macht zur Anklage- 
bank ein sehr kurzer ist, und ich fürchte, daß man in Bulgarien in diesem 
Augenblick die nötige Ruhe verloren hat, um diesen schweren Fehler zu 
vermeiden. Für uns, denen der frühere Minister für Ordnung und Sicher- 
heit der Zustände eine große Gewähr geboten hatte, ist es bedauerlich, daß 
dieser anscheinend stabile Zustand umgestürzt worden ist, und unsichere Zu- 
stände eingetreten sind. Aber wir haben doch dafür nicht einzustehen oder 
mitzureden, wenn in Bulgarien ein Ministerwechsel eintritt, und können 
uns nicht darauf einlassen, daß wir deshalb die Nachfolge von vornherein 
ungünstig aufnehmen, oder, weil es andere Männer sind, den ganzen Stand 
der Dinge verurteilen. Ich halte die Männer, die gegenwärtig in Bul- 
garien ans Ruder gekommen sind, für gute Patrioten, für erfahrene und 
und kluge Politiker, die unter den heftigen Strömungen des Augenblicks 
erst Festigkeit erlangen müssen, um entschieden Stellung nehmen zu können. 
Ich glaube aber, daß die nötige Ruhe nach den Wahlen eintreten wird, 
und daß wir nicht besorgt sein dürfen, daß die politische Richtung, welche 
Bulgarien eingeschlagen hat, durch den Eintritt der neuen Minister sich 
wesentlich ändern werde; das Selbstgefühl und das Selbständigkeitsbewußt- 
sein der Bulgaren ist denn doch zu sehr entwickelt, um zu erwarten, sie 
würden die unter großen Mühen und Gefahren erworbene feste und selb- 
ständige Stellung aufzugeben bereit sein. Ich möchte es vermeiden, über 
die inneren Verhältnisse eines anderen Landes ein Urteil abzugeben. Wir 
müssen eben die Ereignisse mit einiger Geduld abwarten. Doch möchte ich 
davor warnen, frühzeitig abzuurteilen über die Folgen der bulgarischen 
Krise, wie es heute schon oft vorgekommen ist. Die bulgarische Presse, 
welche in der herrschenden Aufregung etwas den Faden verloren hat, geht 
vielfach von der falschen Voraussetzung aus, daß die hiesige öffentliche Mei- 
nung sich mit dem Regime Stambulows bis zu dem Maße identifiziert, daß 
mit dessen Sturze in unseren Gesinnungen für Bulgarien ein Unschlag 
eingetreten sei. Dies ist, wie der verehrte Ausschuß es bestätigen wird, eine 
vollkommen irrige Auffassung. Das Wohlwollen, das wir für Bulgarien 
und alle Balkanvölker hegen, wird durch dergleichen innere Krisen, wenn 
sie nicht einen Umschlag der Politik bedeuten, gewiß nicht tangiert, und 
die Bulgaren können überzeugt sein, daß der Wunsch, welchen man in der
	        
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