Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Die Gesterreichisch-Augarische Monarchie. (November 10.—16.) 239 
Zaren, der ein Freund des Königs und eine Stütze des Friedens gewesen 
sei, vor. Die äußerste Linke erklärt sich dagegen, da Rußland Ungarns Un- 
abhängigkeit unterdrückt habe. Der Antrag wird gegen die Stimmen der 
äußersten Linken angenommen. 
10. November. (Wien.) Abgeordnetenhaus. Militärbudget. 
Weingollfrage. 
Abg. Schauscher beantragt eine Resolution, welche die Regierung 
auffordert, in entsprechender Weise bei den befreundeten Regierungen die 
Idee einer allgemeinen Abrüstung anzuregen und die Einsetzung eines Völker- 
Schiedsgerichts in Vorschlag zu bringen. Der Landesverteidigungsminister 
bezeichnet die ungeheuren Rüstungen als ein Uebel der Menschheit, zu dessen 
Abstellung Oesterreich die Initiative jedoch nicht ergreifen könne. Oester- 
reich stehe gewiß nicht an der Spitze der zur steten Erhöhung der Rüstungen 
drängenden Bewegung und könne daher auch die Beseitigung der riesfigen 
Belastung nicht herbeiführen. 
Die Resolution wird mit großer Majorität abgelehnt und das Re- 
krutenkontingent bewilligt. Hierauf erklärt der Handelsminister Graf Wurm- 
brand aus Anlaß einer Interpellation über die Verhandlungen mit Frank- 
reich über den Weingoll, Oesterreich-Ungarn lehne nach wie vor die von 
Frankreich geforderte Gleichstellung mit den an Italien gewährten Begün- 
stigungen ab. 
12./13. November. (Wien.) Niederösterreichischer Katholikentag. 
Auf der Versammlung sind fast ausschließlich koalitionsfeindliche 
Elemente vertreten. Nach einer Rede des Antisemitenführers Lueger wird 
eine Resolution angenommen, die eine Reform der Volksschule auf streng 
konfessioneller Grundlage fordert. Ferner spricht sich die Versammlung für 
die Wiederherstellung der territorialen Unabhängigkeit des Papstes aus und 
erklärt die Kirche für die einzige Macht, die die soziale Frage lösen könne. 
16. November. (Wien.) Das Herrenhaus nimmt in Ab- 
wesenheit sämtlicher Polen eine Beileidskundgebung für den Zaren 
Alexander III. an. 
November. (Wien.) Wahlreform. 
Es finden Verhandlungen zwischen der Regierung und den koalierten 
Parteien statt über die Gestaltung des Wahlrechts. Den Vorschlag der 
Regierung, alle über 24 Jahre alten außerhalb des jetzigen Kreises der 
Wahlberechtigten stehenden Männer in einer neuen Kurie 43 Abgeordnete 
wählen zu lassen (vgl. S. 203), bekämpft Graf Hohenwart, der das 
Wahlrecht nicht auf die ländlichen Tagelöhner ausdehnen will, um nicht 
„eine Organisation der Besitzlosen“ zu schaffen; er will das Wahlrecht allein 
auf die Industriearbeiter ausdehnen und ihnen 22 Mandate überlassen. 
Die Linke stimmt ihm zu. Die Polen schlagen vor, alle jetzt nicht Wahl- 
berechtigten mit Ausnahme der Dienstboten in eine Kurie zusammenzufassen 
und dieser 43 Mandate zu übertragen. 
Ende November erklärt der Ministerpräsident Fürst Windischgrätz 
im Wahlreformausschuß, daß die Regierung nun die Beratung der Wahl- 
reform im Ausschuß wünsche. Nach den bei den bisher gepflogenen Be- 
sprechungen mit den Koalitionsparteien gewonnenen Erfahrungen scheine 
die Einräumung einer parlamentarischen Vertretung an die Arbeiter all- 
seitige Billigung gefunden zu haben; sie werde daher zunächst in Aussicht 
zu nehmen sein. Sollte jedoch die Berücksichtigung auch anderer Volks-
	        
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