Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Bnlgarien. (August 15. — November 85.) 305 
15. August. (Sofia.) Begnadigungen. 
Prinz Ferdinand begnadigt anläßlich des Jahrestages seiner Thron- 
besteigung 245 wegen gemeiner Verbrechen Verurteilte, außerdem alle wegen 
politischer Verbrechen Verurteilte, worunter sich Rizow und Arnandow, die 
im Panitzaprozesse Verurteilten, ferner Wasiliew, Bobekow, Dzudzew und 
Welikow vom Beltschewprozeß befinden. Nur Karawelow wird nicht be- 
gnadigt, weil er sich geweigert hatte, den Prinzen um Gnade zu bitten. 
6. September. (Sofia.) Verfolgung Stambulows. 
Stambulow wird angeklagt, den Prinzen Ferdinand in einem Ge- 
spräch mit einem Mitarbeiter der „Frankf. Ztg.“ beleidigt zu haben. Nach 
Stellung einer Kaution wird er aus der Untersuchungshaft entlassen. 
23. September. Neuwahlen zur Sobranje. 
Die Regierung erringt einen entschiedenen Sieg über die Oppofition. 
Resultat: 87 ministerielle Konservative, 38 Russophilen, 30 Radoslawisten. 
Tontschew ist nicht wiedergewählt. 
29. September. Radoslawow und Natschewitsch treten die 
Portefeuilles der öffentlichen Arbeiten und der Justiz an Velikow 
und Peschew ab. 
13. Oktober. Rücktritt Tontschews. 
22. Oktober. Der Sultan verleiht Stoilow den Groß-Kordon 
des Osmanie-Ordens. 
27. Oktober. (Sofia.) Eröffnung der Sobranje durch den 
Fürsten. 
Die Thronrede lobt die Ruhe, mit der die Wahlen vollzogen wurden. 
Die Hebung der Industrie und des inneren Wohlstandes solle Hauptaufgabe 
der Sobranje sein. 
Zum Präsidenten wird mit 102 von 149 Stimmen der Regierungs- 
kandidat gewählt. 
5. November. (Sobranje.) Erklärung Stoilows über die 
auswärtige Politik. 
Der Minister erklärt, die Beziehungen zu Rußland seien vor der 
Berufung des Prinzen Ferdinand abgebrochen worden und die jetzige Regie- 
rung habe diese Lage vorgefunden. „Sie betrachtet dieselbe als schädlich 
und anormal. Es ist gar kein Grund vorhanden, daß zwei stamm- und 
religionsverwandte Staaten mit einander in solcher Feindschaft leben. Ueber- 
dies ist die heutige anormale Lage Bulgariens auch nur eine Folge der 
anormalen Beziehungen zu Rußland. Die Regierung wird daher mit allen 
Kräften dahin arbeiten, daß Bulgarien dahin gelange, mit allen Mächten, 
Rußland inbegriffen, in besten und normalen Beziehungen zu leben. Das 
Ideal der Regierung ist, für Bulgarien eine solche Stellung zu erlangen 
wie Belgien, welches ausschließlich durch seinen inneren Fortschritt die 
Freundschaft aller Mächte errungen hat und dauernd behauptet. In erster 
Linie steht das Vaterland; die Unabhängigkeit und das Interesse Bulga- 
riens werden stets ausschlaggebend sein. Gegenüber etwaigen Bedingungen, 
die Rußland aufstellen sollte, sei daran zu erinnern, daß schon die bul- 
arische Konstitution die Wahrung der territorialen und politischen Selb- 
tändigreit vorschreibt. Von Konzessionen in dieser Richtung kann nie und 
für keinen Bulgaren die Rede sein. Ebensowenig kann die Zulassung 
Europ. Geschichtskalender. Bd. IXTV. 20
	        
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