Mebersicht der yvolitischen Entwichelung des Jahres 1894. 327
Gegen den Vertrag wurde geltend gemacht, daß die Herabsetzung
der Zölle gegen Rußland die überschwemmung Deutschlands mit
billigem russischen Getreide zur Folge haben und so die deutsche
Landwirtschaft ruinieren werde; die Freunde des Vertrags er-
widerten, daß der Vertrag mit Rußland unmöglich eine solche
Wirkung haben könne: da der niedrige Zollsatz von 3,50 Mark be-
reits Osterreich und Amerika zugestanden sei, werde Deutschland
seinen Bedarf eben aus diesen billig produzierenden Ländern decken;
die Ablehnung des Vertrages schädige also nur die Industrie, der
durch den Zollkrieg das russische Absatzgebiet verloren gehe, ohne
der Landwirtschaft zu nützen. Der Versuch der Agrarier, durch
Monopolifierung der Getreideeinfuhr und Fixirung des Verkaufs-
preises des importierten Getreides die Getreidepreise zu heben, wurde
mit großer Mehrheit abgelehnt (S. 104), doch wurde unmittelbar
darauf die Wiedereinbringung des Antrages in der nächsten Session
angekündigt.
Die Notlage der Landwirtschaft, um die sich die Reichstags-preußi-
debatten zum großen Teil drehten, beherrschte auch die preußischeg
Gesetzgebung. Um der Landwirtschaft eine ständige Vertretung zur
Beratung der Regierung in agrarpolitischen Maßregeln zu schaffen,
brachte die Regierung einen Gesetzentwurf zur Errichtung von Land-
wirtschaftskammern ein, der auch nach längeren Kommissionsbera-
tungen mit einigen Modifikationen durch eine konservativ-national-
liberale Mehrheit angenommen wurde (S. 121). Bisher hat in-
dessen noch keine Provinz die Kammern ins Leben gerufen. Ein
anderer Vorschlag, der auch der Landwirtschaft zu gute kommen
sollte, dem Staate die ausschließliche Gewinnung der Kali- und
Magnesiasalze zu übertragen, um im Interesse von Landwirtschaft
und Industrie die Preise der Produkte regulieren zu können und
zugleich eine rationelle Ausbeutung der Kaliwerke zu sichern, wurde
abgelehnt; der Grund war teils die Abneigung gegen die Ver-
größerung der staatlichen Thätigkeit auf wirtschaftlichem Gebiete,
teils die Schwierigkeit der Entschädigung der Privatbesitzer. Ab-
gelehnt wurde ferner der Dortmund-Rheinkanal, und zwar durch
die Stimmen der östlichen Agrarier, die sich in ihrem Votum nach
allgemeiner Annahme weniger durch sachliche Gründe als durch