Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

76 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 26.) 
geändert würden. Die Konzessionen, welche wir Oesterreich gemacht haben, 
verlieren durch diesen Vertrag vollständig ihre Bedeutung, denn Rußland 
produziert billiger als Oesterreich, kann es also in jeder Beziehung unter- 
bieten, zumal es bequeme Wasserstraßen nach Deutschland und eine längere 
Grenze hat. Die russischen Konzessionen verlieren aber an Bedeutung, weil 
sie nur gelten, soweit nicht landesgesetzliche Vorschriften und Polizeiverord- 
nungen entgegenstehen. Ich erinnere nur an die Behandlung der Fürstin 
Hohenlohe, einer Schwester des russischen Militärbevollmächtigten Fürst 
Wittgenstein in Paris, welche von ihrem Bruder große Ländereien erbte. 
Was ihr, trotzdem man doch ihr gegenüber große Milde walten ließ, wider- 
fahren ist, das wird in viel schärferem Maße jedem anderen widerfahren, 
der in Rußland Land erwerben wollte. Wir konzedieren dagegen ein sehr 
wertvolles Recht; bei uns ist es unmöglich, daß wir fremde Nationen be- 
hindern in ihrem Erwerbe bei uns. Unsere Grenznachbarn werden also 
dieses Recht bei uns im vollsten Umfange ausüben, während Deutsche in 
Rußland durch die Polizei behindert werden dürfen. Unseren Städten im 
Osten werden dadurch gefährliche Konkurrenten auf den Hals geladen. (Sehr 
richtig! rechts.) Die wichtigste Bestimmung ist im Artikel 19 enthalten 
bezüglich der Gütertransporte auf den Eisenbahnen. Früher war man der 
Meinung, daß die Einräumung solcher Rechte an einen fremden Staat in 
Bezug auf die Tarife der Eisenbahnen sehr gefährlich sei. Der Export 
Rußlands ist ja 300 Millionen Mark (Zuruf rechts: Rubell) oder Rubel 
größer als der deutsche Export nach Rußland. Rußland importiert Massen- 
artikel und für diese binden wir uns in Bezug auf die Gütertarife. Ich 
halte das für bedenklich und spreche mein Bedauern darüber aus, daß dies 
auch seiner Zeit Oesterreich konzediert ist. Man kann den Artikel 19 ganz 
verschieden beurteilen, je nachdem man annimmt, daß er deutscherseits oder 
russischerseits verlangt wurde. Ich glaube, die Fassung ist von deutscher 
Seite verlangt worden. Es handelt sich darum, den Zustand beizubehalten 
daß der russische Export über deutsche Ostseehäfen erfolgt. Wir haben 
Differentialtarife nach Königsberg und Danzig etwa auf den Satz von 
1,10 ct. Wenn Rußland seine Tarife noch mehr ermäßigt, würden wir 
auf 1 ct. kommen. Der Waggon von der russischen Grenze bis zum Hafen 
kostet danach 20 M. Fracht, während im inneren Verkehr 70 M. erhoben 
werden. Früher bestanden die billigen Transportpreise nur für die Durch- 
fuhr über See. Wir bitten diese Bezeichnung wieder aufzunehmen. Wir 
unterwerfen uns aber in Bezug auf die Tarise nach dem Schlußprotokoll 
den Tarifen, welche Rußland in seinen Relationen über Libau festsetzt. 
Das kann ein Staat eigentlich gar nicht konzedieren, weil dabei auch von 
Privatbahnen die Rede ist. (Sehr richtig! rechts.) Unsere Handelsverträge 
kosten uns einen Ausfall von 40—50 Millionen Mark. (Zuruf des Staats- 
sekretärs v. Marschall: Nun, sagen wir 36, ich lasse mit mir handeln. 
(Heiterkeit.) Wenn Sie das Buch von Ulrich: „Staffeltarife und Wasser- 
straßen“ einer gründlichen Prüfung unterwerfen, werden Sie finden, daß 
die Süddeutschen in Bezug auf die Staffeltarife vollständig im Irrtum 
waren. Die Konkurrenz vollzieht sich auf dem Wege der Wasserstraßen. 
Aber das können wir der süd- und westdeutschen Landwirtschaft nicht ver- 
denken; jedes Moment, welches preisdrückend wirken könnte, wird miß- 
trauisch aufgenommen. Infolge dessen dringt sie darauf, daß die Staffel- 
tarife aufgehoben werden, trotzdem doch die billige Beförderung der Massen- 
güter auf weite Entfernungen die Aufgabe der Eisenbahn ist. Nehmen Sie 
uns aber die Staffeltarife, so schädigen Sie die Eisenbahneinnahmen Preußens. 
Das Ergebnis der Handelsvertragspolitik ist also ein wesentliches Herab- 
gehen der Reichseinnahmen und der preußischen Eisenbahneinnahmen. (Sehr
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.