Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

78 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 26.) 
biet der Textil- und Eisenindustrie; sie bleiben weit zurück hinter dem Zoll- 
tarif von 1885, denn der Tarif von 1891 ist ein Kampfzolltarif. Es liegt 
eine drohende Gefahr vor des Exports der russischen Industrie, welche sich 
einer Fürsorge der Regierung, billiger Löhne und der Valutadifferenz zu 
erfreuen hat. Die polnisch- russische Textilindustrie wird der deutschen gegen- 
über bald konkurrenzfähig sein. Die Ermäßigung der Kohlentarife ist sehr 
wichtig, aber ihre volle Bedeutung erreicht sie doch erst, wenn der Rubel- 
kurs auf Pari stehen würde. Dazu kommen die großen Fabrikationsprämien 
welche in Rußland gezahlt werden für Lokomotiven, Schienen etc. Die 
Opfer, durch welche die Verträge erkauft werden, werden nur der Landwirt- 
schaft auferlegt; nur dadurch ist die Industrie in der Lage, Vorteile zu er- 
ringen. Wir werden einmal sehen, ob die Industrie später ihre Dankbar- 
keit erweisen wird. Die „National-Zeitung“ vertröstet die Landwirtschaft 
auf den Export nach Polen. Der Redakteur weiß wohl nicht, daß in Polen 
alles sehr schön wächst, daß die Polen in Rußland nicht so belastet sind, 
wie unsere Landwirtschaft. Bei uns ist die Schafzucht ruiniert zu Gunsten 
der Textilindustrie, während Rußland die Schafzucht protegiert. Der Ex- 
port Rußlands besteht zumeist aus landwirtschaftlichen Produkten und aus 
Holz. Ich bedaure, daß der Zoll für gesägte Blätter herabgesetzt. ist; 
dadurch wird die nationale Arbeit gefährdet. Hunderttausende von Menschen 
könnten beschäftigt werden bei der Bearbeitung des Nutzholzes, die jetzt nicht 
möglich ist durch die russische Konkurrenz. Die Preisbildung bestimmt der 
am billigsten Produzierende. Wenn wir dem russischen Produzenten eine 
direkte Verbindung gewähren, so kann er noch billiger als jetzt produzieren 
und gerade für Roggen und Hafer hat der deutsche Markt für Rußland 
eine sehr große Bedeutung. In Rußland lagern große Mengen Roggen. 
(Kopfschütteln des Staatssekretärs v. Marschall.) Das ist nicht richtig; 
nun, dann hätten wir keinen Preissturz zu befürchten; ich glaube aber, das 
Gegenteil wird der Fall sein. Wir brauchen aus Rußland außer Kaviar 
nichts. (Heiterkeit.) Der Import von Roggen ist daher für uns von 
größter Bedeutung und er trifft gerade die ärmsten Böden. Wenn es 
irgend möglich ist, müßte man für Roggen den Differentialzoll aufrecht er- 
halten. Daß die ostpreußischen Häfen ein Interesse daran haben, sich den 
Handel nach Rußland zu sichern, ist selbstverständlich. Das Gebiet, welches 
hinter ihnen liegt, ist zu gering. Aber man brauchte ihnen doch nicht die 
Interessen der gesamten Landwirtschaft preiszugeben. Ein Beamter der 
ostpreußischen Südbahn sagte mir einmal: Mir ist eine russische Jagd mehr 
wert, als die ganze preußische Landwirtschaft. (Zuruf links: Dummer 
Kerl!) Wir haben das Gefühl, daß die verbündeten Regierungen der 
Frage der Aufhebung des Identitätsnachweises gerne nahe treten würden. 
Ob wir das als artige oder als schlechte Kinder bekommen sollen, lasse ich 
dahingestellt. Aber eine Kompensation für die Schädigung durch den russi- 
schen Handelsvertrag liegt darin für uns nicht (Sehr richtig! rechts), wenn 
wir auch die Frage an sich nicht unterschätzen wollen. Ich habe nachge- 
wiesen, aus welchen Gründen die Landwirtschaft zusammenhalten muß; des- 
halb steht für uns die Frage der Aufhebung des Identitätsnachweises erst 
in zweiter Linie. Die offiziöse Presse hat es uns ja zum Vorwurf gemacht, 
daß wir die imperative Ehrlichkeit aufrecht erhalten wollen gegenüber ge- 
gebenen Versprechungen. Auf Grund dieser Versprechungen müssen wir 
das Wohl der gesamten Landwirtschaft im Auge behalten. Wenn die Land- 
wirtschaft durch die Handelsverträge geschädigt wird, während der Export 
der Industrie sich steigert, so ist damit jedenfalls das Fundament verschoben 
wenn auch an der Spitze eine Verbesserung eingetreten ist. Die verbündeten 
Regierungen weisen darauf hin, daß alle Fragen untersucht werden müssen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.