Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

82 Das Deuttsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 26.) 
Neid auf Frankreich geblickt. Es ist nicht meine Aufgabe, die französische 
Zollpolitik zu kritisieren, Ich kann nur sagen, eine Zollpolitik kann für 
ein Land gut sein, wenn es eine stabile Bevölkerung hat, und kann verkehrt 
sein für ein Land, das, wie wir in Deutschland, eine jährlich um Hundert- 
tausende wachsende Bevölkerung besitzt. Wenn wir hier in Deutschland eine 
Zollpolitik inauguriert hätten, wie es Frankreich gethan, mit der wir eine 
Verminderung der Ausfuhr um 360 Millionen Franken in den letzten zwei 
Jahren (Hört, hört! links) — so viel sind es nämlich, nicht 11 Millionen 
— erzielt hätten, und wenn wir, belastet mit diesem Manko an nationaler 
Arbeit und mit dem Zollkrieg mit der Schweiz, hier vor den Reichstag 
treten, um eine Erhöhung des Getreidezolles auf 6 oder 7 M. zu verlangen, 
ich glaube, der Reichstag würde uns in seiner großen Mehrheit keinen guten 
Empfang bereiten. Ich bin überzeugt, daß keine Regierung in Deutschland 
die Verantwortlichkeit für ein solches Vorgehen übernehmen würde. (Sehr 
richtig! links.) Man mag Einwendungen gegen diesen Vertrag machen, 
man mag finden, daß da zu viel gegeben, am anderen Platze zu wenig 
erreicht ist, — dieser Kritik zu unterliegen, ist das Schicksal aller Tarif- 
verträge. Aber die eine Thatsache bringt man nicht aus der Welt, die 
besteht und bleibt bestehen, daß dieser deutsch-russische Vertrag in der Ge- 
schichte der europäischen Handelspolitik einen Markstein bilden werde von 
weittragender Bedeutung für die ganze Entwickelung derselben. 
Der Herr Vorredner hat die Valutafrage nur gestreift, und auch 
ich will heute darauf nicht näher eingehen; wir werden ja noch manche 
Gelegenheit finden, diesen interessanten Punkt des Näheren zu beleuchten. 
Der Herr Abg. Graf v. Mirbach hat sich gleichfalls für einen Zuschlags- 
zoll ausgesprochen. Ich könnte dieses Projekt einfach dahin kritisieren: ein 
Differentialzoll bleibt ein Differentialzoll, auch wenn er in der Verkleidung 
eines Valutazuschlagzolls einhermarschiert (sehr richtig! links), und er ist 
genau so wirkungslos wie der Differentialzoll, von dem ich eben gesprochen 
habe. Was nun das Verhältnis zwischen der russischen Valuta und dem 
Getreidepreis betrifft, so ist es ja richtig, daß ein und derselbe Getreide- 
preis ausgedrückt in russischen Kreditrubeln, eine höhere Summe darstellt 
in dem Goldpreis des Weltmarktes, wenn der Rubelkurs hochsteht, und eine 
niedere Summe, wenn der Rubelkurs tief steht. In diesem Sinne kann 
man allerdings davon sprechen, daß die Valuta den Getreidepreis beeinflußt. 
Aber das ist doch nur ein Faktor; nebenher gehen noch eine ganze Reihe 
von anderen Faktoren, die den Getreidepreis viel intensiver beeinflussen, die 
die Wirkung des Valutafaktors paralysieren und dem Getreidepreis eine ganz 
andere Tendenz geben. — Der Herr Abg. v. Kardorff scheint anderer An- 
sicht. Ich werde dem Herrn Abgeordneten durch eine graphische Darstellung 
in der Kommission den Nachweis führen, daß sehr häufig der Getreidepreis 
hochsteht und der Rubelkurs niedersteht, und umgekehrt. (Sehr richtig! 
links.) Es geht somit der ganze Vorschlag, Zuschlagszölle einzuführen, von 
einer solchen Voraussetzung aus und führt zu einem nicht gewollten und 
geradezu widersinnigen Ergebnis, daß nämlich unter Umständen, wenn der 
Getreidepreis sinkt, wir unseren Zoll erniedrigen müssen, und wenn der 
Getreidepreis steigt, wir unseren Zoll erhöhen müssen. Man hat davon 
gesprochen, daß man überhaupt mit einem fremden Staate keinen Vertrag 
schließen könne, so lange dieser Staat eine schwankende Valuta habe; man 
dürfe nur Verträge schließen mit solchen Staaten, die eine unbedingte 
Sicherheit für die Aufrechterhaltung ihrer Valuta bieten. Ich erwidere 
darauf: eine solche Sicherheit giebt es überhaupt nicht. Es giebt keinen 
Staat in der Welt, der auf 10 Jahre hinaus die vertragsmäßige Gewähr 
übernehmen kann, daß er niemals eine Schwankung seiner Valuta haben
	        
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