Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

110 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 19.) 
der ersten Anregung der Sache gehofft hat. Die Gesetzgebung kann ja 
darin Modifikationen und Erleichterungen schaffen, sie kann namentlich die 
Kleberei abschaffen, die die unglücklichste Erfindung ist, worauf man je 
kommen konnte. Wo soll man alle die Klebemarken deponieren (Zustim- 
mung), und wie soll der Arbeiter, der in Sturm und Regen wochenlang 
unter freiem Himmel liegt, seine Klebemarken aufheben? Das ist ja gar 
nicht möglich. Das sind eben Einrichtungen, die vom grünen Tische aus- 
gingen, für die ich jede Verantwortlichkeit ablehne. (Bravo !) Eine Besserung 
darin herbeizuführen, das ist meines Erachtens Aufgabe der Assoziationen, 
wie ich die Keime davon, glaube ich, mir gegenüber sehe, die sich als Ge- 
nossenschaften organisieren, die ihrerseits die Gesetzgebung richtig stellen, auf 
Grund dieser Richtigstellung Forderungen stellen (Bravo !), und auch ihre 
Abgeordneten in dem Sinne durchbringen. Das Zusammenhalten, die Ge- 
nossenschaften, die Assoziationen, das ist es, worauf ich in höherem Maße 
gerechnet habe, die freiwilligen Assoziationen. Wir können Zwangsinnungen 
heutzutage nicht mehr in die Wirklichkeit bringen, aber die Innungen so 
auszustatten, daß sie anziehend werden, daß jeder Gewerbsgenosse einsieht: 
ich stehe mich besser, wenn ich der Innung angehöre, und daß sie eine 
freiwillige Werbekraft ausüben, das würde ich politisch für außerordentlich 
nützlich halten. 
Den Darmstädtern erwidert er u. a. 
„Ich freue mich, daß Sie Ihrerseits ein Anerkenntnis dafür haben, 
daß durch die großen Ereignisse unter Kaiser Wilhelm I. ein Vorland für 
Sie gewonnen ist, namentlich für Rheinhessen, daß Sie nicht mehr direkt 
so exponiert liegen. Das war meiner Ueberzeugung nach das Hauptbedürfnis. 
Die Elsäßer irren sich immer in der Ansicht, daß wir aus unerwiderter 
Liebe zu ihnen sie hätten haben wollen. Wir brauchten das Glacis vor 
uns und die weitere Entfernung der französischen Einbruchsstationen. 
Auf die Huldigung der Künstler entgegnet er: 
Die Münchener Kunst ist für mich eine wirksame Mitarbeiterin in 
der deutschen Einigung gewesen. Die Kunst und die Wissenschaft, die Uni- 
versitäten und die Kunstwerkstätten, die sind immer deutsch geblieben, von 
Wien bis Amsterdam — ich will Amsterdam nicht nennen, die Holländer 
könnten es übel nehmen — (Heiterkeit), sagen wir von Wien bis Kleve. 
Das wird uns auch immer zusammenhalten. Wir können nach unseren 
Bildungsverhältnissen gar nicht auseinanderfallen; nach unserer ganzen 
Geschichte, nach unserer Dichtkunst, nach unserer Kunst überhaupt wird sich 
immer der Deutsche wieder zum Deutschen finden. So wird es — unter 
einem Herrscher will ich nicht sagen — aber unter einer Regierung bleiben, 
wird gerade die Kunst und die Wissenschaft auch das Terrain sein, in dem 
die Wurzeln am festesten schlagen, daß sie nicht wieder losreißen. Deshalb 
danke ich Ihnen vom politischen Standpunkte aus, daß Sie nicht bloß eine 
bayerische, sondern eine deutsche Kunst pflegen. Ich habe vorgestern öster- 
reichische Vertreter hier gehabt, was bindet uns an die? Es ist Kunst 
und Wissenschaft. Politisch stehen wir nicht in einer Einheit zusammen, 
aber es wird doch immer schwer, die österreichischen Leser von Wallenstein 
beispielsweise zu überzeugen, daß der Dichter dieser rein österreichischen 
Tragödie nicht ihnen sowohl gehörte wie den Reichsdeutschen. Und so kann 
ich nur wiederholen: die geistigen Elemente, die halten uns zusammen, 
auch wenn uns die körperlichen Jahrhunderte hindurch getrennt haben. 
19. April. (Friedrichsruh.) Fürst Bismarck empfängt eine 
Deputation der bürgerlichen Kollegien von Stuttgart und einen 
Vertreter des sächsischen Gymnasiallehrervereins.
	        
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