Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

126 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5.) 
für die Art, für die Motive, aus denen der Andere, der Nachbar, der 
Landsmann deutsch war. Ich darf nur an Zeiten erinnern, die die meisten 
von Ihnen erlebt haben werden, wo die politische Ubereinstimmung zwischen 
Preußen und Sachsen, die Bereitwilligkeit Sachsens, die Hand zu bieten, 
zur Bildung des heutigen Deutschen Reiches, minder groß war, als sie 
heute ist. Wir sind ja bis zum Kriege zwischen Preußen und Sachsen ge- 
kommen und die sächsische Truppe von 1866 hat noch heute in der öster- 
reichischen Armee das Zeugnis, daß sie das festeste Korps von allen bei 
Königgrätz geblieben ist — ein glänzendes Zeugnis für die militärischen 
Leistungen Sachsens. Außerdem war in Sachsen das Bedürfnis, die nationale 
Bezeichnung dem Auslande gegenüber zu wechseln, nicht so hervorragend, 
wie in vielen kleinen Staaten. Was Sachsen war, was es zu bedeuten 
hat, wenn man sagt: ich bin Sachse — das hatte seinen historischen Hinter- 
grund schon seit Jahrhunderten und es gab eine Zeit, wo Sachsen als 
solches in seiner Verbindung mit Polen eine große europäische Rolle ge- 
spielt. Also die Empfindung eines im Auslande unbekannten deutschen 
Staatsgebildes, die unter Umständen den Befragten zögern machte zu be- 
kennen, wo er her sei, fand bei den Sachsen nicht statt. Die hatten immer 
darauf eine befriedigende Antwort, denn was Sachsen war, war in der 
ganzen Welt bekannt — und deshalb war das Bedürfnis, aus der Klein- 
staaterei in einen großen Nationalstaat wieder überzugehen, in einem grö- 
ßeren und längst im Besitze eines europäischen Rufes befindlichen Staate 
wie Sachsen und Bayern nicht so groß als manchen anderen. Es war im 
Gegenteil Sachsen zu einer Rivalität mit den anderen vollberechtigt. Seit 
wir ein Deutsches Reich aufgerichtet haben, sind die Scheidewände, die uns 
dynastisch und territorial trennen, ich will nicht sagen gefallen, aber sie 
hindern uns nicht mehr, mehr wie telephonisch mit anderen über die Wände 
hinaus zu verkehren und uns einig zu fühlen. Das Gefühl, daß wir dem 
Nichtdeutschen gegenüber demselben Staatsgebilde angehören, ist heutzutage 
in Sachsen so lebendig wie in Preußen und war es früher nicht. Das ist 
ein Fortschritt, dessen Bedeutung und dessen erhebende Bedeutung für unsere 
nationalen Empfindungen wir alle erkennen und das ist das Gefühl, was 
Sie hierher führt, das Gefühl, uns alle wieder darauf besonnen zu haben, 
daß wir der großen deutschen Nation, die in Europa zu einer hervor- 
ragenden Rolle jederzeit mitberufen gewesen ist — die aus der Rolle ge- 
fallen war durch innere Zerrissenheit —, daß wir der ihre Stellung ge- 
meinsam wieder gewonnen haben, indem wir jetzt — ich will nicht ruhm- 
redig sprechen — doch als eine der leitenden Mächte an der Spitze Europas 
mit stehen (Bravo) als Deutsche und Bürger des Deutschen Reichs. Wir 
waren das ja immer, aber das alte Deutsche Reich, das man ja schon in 
der bezeichnenden Form nicht deutsch, sondern heilig und römisch nannte, 
das hatte ja auch die staatliche Zusammengehörigkeit vor dem juristischen 
Urteil, aber sie war praktisch nicht vorhanden. Jetzt ist sie durch dynastische 
Streitigkeiten, durch die Rivalität der Stämme nicht mehr gestört, die 
Stämme haben überhaupt nicht so mit einander rivalisiert, wie man das 
im Sprachgebrauch gewöhnlich sagt. Die Stämme der Schwaben und 
Niedersachsen, der Obersachsen gehören verschiedenen Dynastien an und haben 
Jahrhunderte lang ohne Rücksicht auf die Stammesgemeinschaft gegen ein- 
ander gefochten, der Thüringer, der Obersachse gegen seinen Landsmann 
oben im Gebirge, der Niedersachse an der altmärkischen und hannöverschen 
Grenze noch bei Langensalza. In den Stämmen liegt es nicht, es lag in 
den Dynastien und seit die Dynastien einig find und, wie ich glaube, einig 
bleiben werden (Bravo), halte ich unsere nationale Einigkeit auch für ge- 
sichert. Der angestammte Fürst hat immer auf das Herz seiner Unter- 
 
	        
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