Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 23.—26.) 55 
dringend davor warnen, überspannte Hoffnungen zu hegen oder gar die 
Verwirklichung von Utopien zu verlangen. Kein Stand kann beanspruchen, 
auf Kosten der anderen besonders bevorzugt zu werden; des Landesherrn 
Aufgabe ist es, die Interessen aller Stände gegen einander abzuwägen und 
mit einander zu vermitteln, damit das allgemeine Interesse des großen 
Vaterlandes dabei gewahrt bleibe. Auf dem heutigen Tage ruht noch ein 
Schimmer des Tages von Friesack. Möge uns der Blick auf jenen ernsten, 
schlichten, erzgerüsteten Mann daran erinnern, daß nur im Zusammenwirken 
von Fürst und Volk der Erfolg verbürgt ist. Im Begriff, in die Feier 
der 25jährigen Wiederkehr der Neuerrichtung des geeinten Vaterlandes 
einzutreten, mögen wir dessen eingedenk sein, wie nur die gemeinsame Arbeit 
aller deutschen Stämme und ihrer Fürsten das Reich gebaut. Unvergäng- 
lich ist dabei der Ruhm der Brandenburger, vor allem an jenem glor- 
reichen 16. August. In Erinnerung hieran und mit dem alten Rufe, mit 
dem die reisigen Scharen Berlins einst den Hohenzollern zu manchem 
Strauß gefolgt sind: 
„Berlin alleweil vorne voran“ 
erhebe ich mein Glas und leere es auf das Wohl der Mark und Meiner 
Brandenburger“. 
23. Februar. (Preuß. Abgeordnetenhaus.) Kultusetat. 
Paritätsdebatte. Ordensniederlassungen. 
Abg. Dasbach (3.) verlangt größeres Entgegenkommen gegen die 
katholischen Ordensschwestern und Berücksichtigung der polnischen Sprache 
im Religionsunterricht. Abg. Schröder (Pole): Nicht der Kreisschul- 
inspektor, sondern die Familie müsse entscheiden, welche Kinder am polni- 
schen Unterricht teilnehmen sollten. In den westpreußischen Schulen herrsche 
Imparität. Kultusminister Dr. Bosse: Die Klagen über Imparität in 
Westpreußen seien unbegründet, 1892—95 seien dort mit Staatshilfe 48 
evangelische und 54 katholische Schulen gegründet. Den Ordensniederlas- 
sungen komme die Regierung entgegen, so waren 1882 in Preußen 890 
Ordensniederlassungen mit 7248 Mitgliedern vorhanden, Ende 1893 da- 
gegen 1215 Niederlassungen mit 14 044 Mitgliedern. Abg. Hauptmann 
(Z.) erklärt die geringe Anzahl von Katholiken in den oberen Stellen 
daraus, daß alle maßgebenden Stellen mit Mitgliedern der geheimen natio- 
nalen und internationalen Gesellschaften besetzt seien, die ihren Einfluß miß- 
brauchten. 
23. Februar. (Ostpreußen.) Reichstagsersatzwahl. 
Im Wahlkreise Lyck-Johannisburg-Oletzko werden abgegeben 17 695 
Stimmen. Hiervon erhält Oberpräsident Graf von Stolberg in Königs- 
berg (kons.) 12 259 Stimmen, Bauernhofbesitzer Dau in Hohenstein (freif.) 
3889, Gutsbesitzer Ebhard in Kommorowen (Soz.) 1436, Gutsbesitzer von 
Borcke in Tolsdorf (Bund der Landwirte) 107, zersplittert 4 Stimmen. 
alnnt Graf v. Stolberg hatte sich vor der Wahl für den Antrag Kanitz 
erklärt. 
25./26. Februar. (Reichstag.) Erste Beratung des Gesetz- 
entwurfs, betr. anderweite Ordnung des Finanzwesens. 
Staatssekretär Graf Posadowsky: Der Grund, warum dieser 
Gesetzentwurf zum zweiten Mal vorgelegt werde, liege in den großen 
Schwankungen zwischen den Ueberweisungen und den Matrikularbeiträgen 
der Einzelstaaten. Die Vorlage mache noch geringere finanzielle Ansprüche 
als die vorige, man habe sie deshalb in der Presse die kleine Finanzreform 
 
	        
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