Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreizehnter Jahrgang. 1897. (38)

92 Das Vestsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 17.) 
17. Mai. (Preuß. Abgeordnetenhaus.) Erste Beratung 
des Gesetzentwurfs zur Ergänzung und Abänderung von Bestim- 
mungen über Versammlungen und Vereine. 
Ministerpräsident, Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillings- 
fürst: Ehe ich auf eine Besprechung des heute zur Beratung stehenden Gesetz- 
entwurfes eingehe, scheint es mir nötig, um dem vielfach hervorgetretenen 
Vorwurfe zu begegnen, daß diese Vorlage mit der von mir in der Sitzung 
des Reichstags am 27. Juni 1896 abgegebenen Erklärung nicht im Ein- 
klang stehe, auf den damaligen Vorgang zurückzukommen. Ich habe er- 
klärt, es bestehe die Zuversicht, daß das in verschiedenen Bundesstaaten 
für politische Vereine geltende Verbot, mit anderen Vereinen in Verbindung 
zu treten, werde außer Wirksamkeit gesetzt werden, und daß es in der Ab- 
sicht der beteiligten Regierungen liege, die Beseitigung des durch dieses 
Verbot geschaffenen Rechtszustandes herbeizuführen. Als nun von einem 
Reichstags-Abgeordneten die Erwartung ausgesprochen wurde, daß eime 
Aufhebung des Koalitionsverbotes nicht an Bedingungen geknüpft werden 
würde, die eine Verschärfung des bestehenden Vereinsrechts enthielten, ist 
vom Bundesratstisch aus keine Antwort erfolgt, und zwar seitens der 
preußischen Regierung aus dem Grunde nicht, weil sie sich damals über 
diese Frage noch nicht schlüssig gemacht hatte. Wenn nun die preußische Re- 
gierung Ihnen, entgegen der damals von dem Herrn Abg. Rickert aus- 
gesprochenen Erwartung, einen Gesetzentwurf vorlegt, der neben der Auf- 
hebung des Koalitionsverbots auch andere Modifikationen der Verordnung 
vom 11. März 1850 enthält, so glaubt sie damit den geeignetsten Weg 
eingeschlagen zu haben, um das von mir abgegebene Versprechen einlösen 
zu können. Denn ein Gesetzentwurf, der lediglich die Aufhebung des Koali= 
tionsverbots zum Gegenstand gehabt hätte, würde vielleicht nicht einmal 
der Zustimmung dieses hohen Hauses sicher gewesen sein; noch weniger hätte 
man auf Zustimmung seitens des Herrenhauses rechnen können, und es wäre 
nnter diesen Umständen bei einer leeren Demonstration geblieben. Ich 
würde mich in diesem Falle wohl in formaler Weise meines Versprechens 
entledigt haben, aber materiell wäre dasselbe nicht erfüllt worden. Indes, 
meine Herren, selbstverständlich ist es nicht die Rücksicht auf die voraus- 
sichtliche Haltung des Herrenhaufes allein gewesen, die die königliche Staats- 
regierung bestimmt hat, Ihnen die jetzige Vorlage zu machen; das aus- 
schlaggebende Moment lag vielmehr darin, daß die Verordnung vom 
11. März 1850 nicht nach allen Richtungen genügt, um einen die gesetz- 
liche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauch des Versammlungs- 
und Vereinsrechts zu verhüten. Meine Herren, ich stehe nicht an, zu er- 
klären, daß ich das Vereins= und Versammlungsrecht als eine der wert- 
vollsten Errungenschaften betrachte, als ein schlechthin unentbehrliches Mittel, 
um die politische Entwicklung und Erziehung eines Volkes zu fördern. 
Andererseits wird aber, wie ich glaube, auch von einem sehr vorgeschrittenen 
liberalen Standpunkte aus zugegeben werden müssen, daß ein absolut un- 
beschränktes Vereinsrecht große Gefahren in sich birgt und selbst in einem 
hochzivilisierten Lande zu argen Mißständen, ja unter Umständen zu einer 
Erschütterung des Staatsorganismus führen kann. Es muß daher die 
Aufgabe sein, zwischen Unterdrückung und Schrankenlosigkeit des Vereins- 
rechts die richtige Mitte zu finden. Wir sind der Meinung, daß dies in 
der Verordnung vom 11. März 1850 nicht überall gelungen ist, und daß 
es auf der einen Seite möglich erscheint, gewisse einschränkende Vorschriften 
fallen zu lassen, auf der anderen aber auch geboten ist, der Staatsregierung 
stärkere Befugnisse einzuräumen. Was die Vorlage in der letzten Bezieh-
	        
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