Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreizehnter Jahrgang. 1897. (38)

Großbritannien. (November Mitte—Dezember.) 251 
sei es gelungen, den europäischen Frieden zu wahren, der von so unge- 
heurer Wichtigkeit sei. Es sei ein großes Lob und eine Errungenschaft für 
Europa, die Kriegskalamität verhütet zu haben. Europa habe auch Griechen- 
land verhindert, Selbstmord zu begehen, daher werde kein Unparteiischer 
den europäischen Mächten vorwerfen, daß sie nicht alle Kräfte aufgeboten 
hätten, Griechenland am Kriege zu verhindern. Die Aufgabe der Mächte 
sei aber noch nicht beendet. Noch liege die kretische Frage vor. Wenn 
diese sich lange hinziehe, dürfe man die handelnden Faktoren der euro- 
päischen Politik nicht tadeln. Man dürfe von dem Konzerte nicht ver- 
langen, das zu thun, was es nicht leisten könne. Das Konzert habe viele 
Tugenden, aber die der Schnelligkeit sei ihm nicht eigen. Den Kritikern 
gebe er zu bedenken, daß, wenn das Konzert nicht bestanden hätte, keine 
Macht vorhanden wäre, die etwas besseres hätte leisten können. Ein voll- 
ständiges Vorgehen einer Macht gegen das Vorgehen der anderen würde 
einen verheerenden europäischen Krieg ergeben haben. Er hoffe, daß das 
Einvernehmen der Mächte fortdauern werde und daß die zu lösenden Schwie- 
rigkeiten eine befriedigende Behandlung finden- werden. Man möge im Auge 
behalten, daß die Föderation Europas ein Embryo sei, und zugleich das 
einzige Gebilde, welches die Civilisation vor der Verwüstung des Krieges 
bewahren könne. Die einzige Hoffnung, zu verhindern, daß der Wettbe- 
werb der europäischen Mächte in ihren Rüstungen auf ein Streben nach 
gegenseitiger Vernichtung hinauslaufe, bestehe darin, daß die Mächte all- 
mählich dahin gebracht werden dürften, in allen Fragen in freundlichem 
Geiste zusammen zu handeln, bis sie zuletzt zu einem internationalen Ge- 
bilde zusammen geschweißt sind, das der Welt schließlich eine lange Zeit 
ungehemmmter Handelsthätigkeit und dauernden Frieden gibt. 
Mitte November. Konkurrenz zwischen England und Frank- 
reich in Westafrika. 
Es finden Verhandlungen in Paris zwischen England und Frank- 
reich über die Abgrenzung ihrer Interessensphären im Nigergebiete statt. 
Die Presse begleitet die Verhandlungen mit Aufmerksamkeit, der Ton ist 
gelegentlich sehr gereizt; so sagt die „Morning Post“: Jedermann in 
England würde gern Frankreich in bezug auf Westafrika jedes vernünftige 
Zugeständnis machen; aber wenn die französische Regierung den Krieg 
wolle, so sei nichts leichter als das; sie brauche nur auf unberechtigten 
Forderungen nachdrücklich zu bestehen. Die britische Admiralität und das 
Kriegsamt seien zweifellos auf ihrer Hut und hätten alle nötigen Vor- 
kehrungen getroffen. Die britische Regierung werde jedoch nicht zögern, 
lieber einige Gefahr zu laufen, als so zu erscheinen, als schlage sie einen 
herausfordernden Ton an. 
November. Dezember. Die Presse über die deutsche Expe- 
dition nach Ostasien und die deutsche Flottenfrage (vgl. S. 172). 
Sämtliche Blätter erkennen an, daß die deutsche Politik mit der 
Besetzung Kiau-Tschaus in eine neue Epoche eintrete; sie geben die Berech- 
tigung des deutschen Vorgehens zur Bestrafung der Mörder der Missionare 
zu, stellen aber gegen eine dauernde Besetzung des Hafens Einspruch ande- 
rer Mächte in Aussicht. Allmählich werden die Kritiken schärfer, und es 
wird auf die Bedrohung der englischen Interessen in Ostasien durch Deutsch- 
lands Vorgehen hingewiesen. Auch die geplante Vermehrung der deutschen 
Flotte wird durchweg als gegen England gerichtet aufgefaßt. Es erfolgen 
daher, insbesondere seit der Kieler Rede, die schärfsten Angriffe gegen 
Deutschland und den Kaiser persönlich. Dagegen wendet sich der radikale
	        
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