Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1897. 345
biet unter seine Nachbarn verteilten. Die moralische Berechtigung
dazu lag ohne Zweifel vor, da es der Pforte nicht gelungen war,
die verschiedenen Rassen und Religionen ihrer Unterthanen mit
einander zu versöhnen und Garantien gegen die Wiederholung von
Metzeleien, wie sie in Armenien und Kreta stattfanden, zu geben.
Diese Frage wurde von den einzelnen Mächten verschieden, je nach
ihrem politischen Interesse beantwortet.
Die am nächsten beteiligten Mächte sind Rußland und Oster- has
reich, die alten Rivalen um den vorherrschenden Einfluß auf der
Balkanhalbinsel. Nun liegt es im Interesse Rußlands, die Ver-
nichtung der Türkei zu verschieben, so lange es nicht in der Lage
ist, das entscheidende Wort dabei zu sprechen und sich den Löwen-
anteil, vor allem Konstantinopel und die Dardanellen, zu sichern.
Einstweilen ist das aber nicht möglich ohne einen Krieg mit Oster-
reich und England, der sich bei den widerstreitenden Interessen der
Großmächte und dei den bestehenden Allianzverhältnissen unfehlbar
zu einem europäischen auswachsen müßte. An dieser Uneinigkeit
der Mächte über die Verteilung der türkischen Erbschaft ist bisher
jedesmal der wiederholt aufgetauchte Plan, dem Osmanenreich ein
Ende zu machen, gescheitert. Dazu kommt für Rußland die Not-
wendigkeit, die in Asien begonnene Kolonialpolitik fortzusetzen und
Zentralasien wie Korea und Nordchina mehr und mehr in poli-
tische und kommerzielle Abhängigkeit zu bringen, und der russischen
Industrie hier ein ausreichendes Absatzgebiet zu schaffen. Agrarische
Krisen, die die Steuerkraft der Landwirtschaft erheblich beeinträch-
tigen, fordern gebieterisch diese Politik, um die Industrie in den
Stand zu setzen, den durch die Agrarkrisis entstandenen Ausfall in
den Steuereinnahmen zu decken. Zur nachdrücklichen Führung
dieser Offensive im Osten ist aber Ruhe im Westen unbedingt er-
forderlich: ein weiterer Grund, um jeden Konflikt der Pforte wegen
zu vermeiden. Österreichs Interesse erheischt dasselbe; mit inneren Oester-
Angelegenheiten genügend beschäftigt und keineswegs militärisch bis *
zum äußersten gerüstet, hat es gar keine Ursache, die Auflösung
der Pforte und die damit verbundene Gefahr eines Weltkrieges zu
beschleunigen. Beide Ostmächte mußten also suchen, das auf Kreta
ausbrechende Feuer im Keime zu ersticken.