Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechzehnter Jahrgang. 1900. (41)

Kuttland. (April—Juni 2.) 271 
ökonomische Lage der Bauern verschlimmert sich hauptsächlich infolge 
Sinkens der Sittlichkeit unter ihnen. Die Trunksucht nimmt zu, die Sucht 
nach Luxus macht sich immer mehr geltend, der Hang zum Müßiggang 
wächst: die Folgen sind die Familienteilungen, d. h. mit anderen Worten 
der Zerfall der bäuerlichen Familien, dieser ökonomischen Unreinheit des 
Staates. Besonders ungünstig auf die Sittlichkeit des Bauern wirken die 
Wandergewerbe, die Fabriken und die Städte ein. Der Landmangel führt 
noch nicht zur Verarmung, solange noch ein moralischer Halt vorhanden 
ist. Umgekehrt läßt sich nachweisen, daß Dorfschaften, die genügend Land 
haben und frei find von Loskaufszahlungen, in ökonomischer Hinsicht sehr 
niedrig stehen. In einer seiner Skizzen läßt Hr. Uspenski, wie einem 
Referat der „Russk. Bogastwo“ zu entnehmen, einen Gemeindeältesten über 
die Ursachen des Niederganges resumieren und seine Ansicht über die Mittel 
aussprechen, durch welche der Bauer zum neuen Leben erweckt werden kann: 
„Warum hat man uns den Stock genommen? Geben Sie mir den Stock 
in die Hände, geben Sie ihn mir nur auf zwei Jahre, ohne jegliche Be- 
dingung und ich werde wieder Ordnung in die Bude hineinbringen! Nach 
zwei Jahren wird der Bauer Getreide und Vieh haben, er wird nicht mehr 
saufen und unbotmäßig sein, alles bringe ich Ihnen wieder in Ordnung, 
geben Sie mir nur den Stock!“ Ganz anders urteilt ein Mitarbeiter der 
„Petersburgskija Wedomosti“: „Die Unbildung ist die wahre Veranlassung 
unserer Verarmung; das ist die Wurzel des Uebels, dessen Bekämpfung die 
einzige Sorge des Russen sein müßte. Nicht die Rute ist im Dorf nötig, 
sondern die Schule; nicht die Rückkehr zur Leibeigenschaft, nicht die Er- 
weiterung der Kompetenzen der Landhauptleute und der Polizeiorgane, 
sondern eine wohlorganifierte Schule thut unserem Volke not, damit auch 
der Bauer Anteil habe am Leben der Nation, nicht als Arbeitskraft, son- 
dern als ein vernünftiger Teil des Staatsorganismus. Solange die 
Finsternis herrscht, wird alles, was wir unternehmen, nur ein Palliativ 
bleiben. Die Volksbildung, die geistige Entwicklung des Volkes, das ist 
die wichtigste Aufgabe, die uns obliegt. Eine Volksschule, die nicht nur 
die Kenntnis des Lesens und Schreibens vermittelt, sondern intelligente 
Leute heranzieht, wird Wunder wirken.“ Mit diesem Urteil ist wiederum 
die „Russk. Bogastwo“ nicht einverstanden: „Um gegen die Uebel anzu- 
kämpfen, unter denen der russische Bauer leidet, genügt es noch nicht, ihm 
eine gute Schule zu geben. Die komplizierten ökonomischen Fragen des 
Volkslebens lassen sich nicht so einfach lösen. Wo es sich um die Wieder- 
herstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts bei den Bauern handelt, 
dürfte die Verbreitung der Bildung unter den Bauern allein noch nicht 
hinreichend sein."“ 
April. Die russische Presse protestiert allgemein gegen den 
Durchmarsch englischer Truppen durch portugiesisches Gebiet im 
südafrikanischen Kriege. 
Ende April. Der Minister des Innern verbietet, daß Juden 
ohne besondere Erlaubnis ihren Wohnsitz innerhalb 40 Werst von 
der deutschen und österreichischen Grenze nehmen. Die Verordnung 
soll den Schmuggel hintertreiben. 
2. Juni. (Finnland.) Der Minister des Innern bestimmt, 
daß vom 14. August ab die finnischen Postmarken auf Briefen ins 
Ausland durch russische ersetzt werden.
	        
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