Nebersicht der pvolitischen Entwickelung des Jahres 1900. 343
umwandeln zu lassen, war aber auf unüberwindliche Obstruktion
gestoßen. Sie half sich damit, daß sie die Bestimmungen des De-
krets in Kraft ließ und die Umwandlungsvorlage nicht wieder ein-
brachte. Zu ihrem Unglück erklärte aber der Kassationshof das
Dekret für rechtsungültig, weil es durch den Antrag auf Umwand-
lung in ein Gesetz die vorläufige Gesetzeskraft eingebüßt habe.
Infolgedessen war die Regierung gezwungen, die Umwandlungs-
frage wieder einzubringen und wie zu erwarten setzte auch sogleich
die Obstruktion wieder ein. Durch eine Anderung der Geschäfts-
ordnung suchte die Mehrheit die Opposition niederzuschlagen: es
wurde zum Teil unter Verletzung der Formen der Geschäftsordnung
ein Antrag durchgesetzt, wonach der Präfident berechtigt ist, wider-
spenstige Abgeordnete aus dem Hause zu entfernen. Aber als es
zur Anwendung des neuen Paragraphen kommen sollte, versagte
dem Präsidenten der Mut (16. Maig; er legte seine Würde nieder
und es blieb nichts übrig, als die arbeitsunfähige Kammer auf-
zulösen. Die Neuwahlen brachten der Regierung eine nominelle
Mehrheit von etwa 100 Stimmen, aber die Mehrheit war nicht
einheitlich, und die Obstruktionspartei, die äußerste Linke, hatte sich
auf Kosten der gemäßigten Opposition verstärkt, so daß die Lage
für die Regierung ungünstiger war als vorher. Schon bei der
Präsidentenwahl wurde offenbar, daß die Stellung des Kabinetts
unhaltbar geworden war: der ministerielle Kandidat erhielt nur
eine geringe Mehrheit, und seine Bemühungen, die Opposition zur
Anerkennung der Geschäftsordnung zu bewegen, schlugen fehl. Er
legte deshalb sein Amt nieder und das Ministerium mußte eben-
falls zurücktreten, wenn es nicht den aussichtslosen Kampf gegen die
HObstruktion wieder aufnehmen wollte (18. Juni). Das Ministerium,
das der 82jährige Senatspräsident Saracco nun bildete, bestand
zum größten Teil aus Mitgliedern der Pelloux'schen Mehrheit,
aber nun, nach dem Ausscheiden der Führer des Kampfes, war man
auf beiden Seiten des Zwistes müde und zur Versöhnung geneigt.
Der neue Kammerpräfident Villa ließ eine neue Geschäftsordnung
ausarbeiten, die die erzwungene beseitigte, aber die Befugnisse des
Präsidenten verstärkte. Die Opposition ließ sie sich gefallen (2. Juli),
aber zu parlamentarischen Arbeiten war die Kammer nach den
