170 Das Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.)
daß ich verfassungsrechtlich nicht in der Lage bin, hier auf die Wreschener
Vorgänge einzugehen. Es handelt sich um eine innere Angelegenheit eines
Bundesstaates. Das Verhältnis der preußischen Unterthanen polnischer
Zunge zur preußischen Staatsregierung ist eine rein preußische Angelegen-
heit. Wenn diese Angelegenheit im preußischen Landtage zur Sprache ge-
bracht werden sollte, werde ich dort an zuständiger Stelle Rede und Ant-
wort stehen. An der Erörterung der Wreschener Vorgänge in diesem hohen
Hause vermag ich mich jedoch nicht zu beteiligen und ich muß es ablehnen,
über die von dem Antragsteller zur Sprache gebrachten Einzelheiten meiner-
seits zu diskutieren und darauf verzichten, dieselben hier richtig zu stellen.
Ich habe als Reichskanzler einerseits die Pflicht, alle verfassungsmäßigen
Rechte des Reiches und seiner Organe nach außen wie nach innen in vollem
Umfange zu wahren. Ich habe aber anderseits ebensosehr die Aufgabe,
ein Eingreifen der Reichsinstitutionen in die durch die Verfassung den
Einzelstaaten vorbehaltene Zuständigkeit zu verhindern. Ich würde genau
denselben Standpunkt einnehmen, wenn es sich statt um eine preußische,
etwa um eine bayerische, württembergische oder anhaltische Landesangelegen-
heit handelte. Wie das Reich das Recht hat, von den Bundesgliedern die
loyale Erfüllung aller den Bundesstaaten gegenüber dem Reiche obliegenden
Verpflichtungen zu fordern, die es auch bisher nie vergebens forderte, so
haben umgekehrt die Bundesstaaten Anspruch auf unbedingte Beachtung
der ihnen verfassungsmäßig zustehenden Befugnisse. Diese werde ich nicht
beeinträchtigen lassen und gegen jeden Versuch, an dem bundesstaatlichen
Charakter des Reiches und den Rechten der Bundesstaaten zu rütteln, ent-
schieden Verwahrung einlegen. Da der Antragsteller, dem ich für seine
ruhige Begründung der Interpellation um so dankbarer bin, je größer der
Abstand ist zwischen seiner Mäßigung und der von der polnischen Presse
geführten Sprache, Bezug nahm auf unsere Beziehungen zum Auslande,
so erkläre ich noch nachstehendes: Davon, daß durch die Vorgänge in
Wreschen dem Ansehen des Deutschen Reiches irgendwie ein Abbruch ge-
schehen wäre, ist mir nicht das Mindeste bekannt. Den Anstiftern jener
Exzesse in Galizien und Warschau, die der Antragsteller doch zu milde be-
urteilt hat, mag ja die Absicht vorgeschwebt haben, durch derartige Kra-
walle ein Moment der Beunruhigung hineinzutragen in unsere Beziehungen
zu den beiden Nachbarmächten Oesterreich-Ungarn und Rußland. Wenn
aber irgend welche Befürchtung bestehen sollte, daß unsere Beziehungen zu
Oesterreich-Ungarn und Rußland sich infolge jener Vorgänge ungünstiger
gestaltet hätten, so kann ich eine solche Besorgnis vollkommen zerstreuen.
Die Haltung sowohl der russischen wie der österreichisch-ungarischen Regie-
rung entsprach unseren berechtigten Erwartungen und wir hatten keinen
Grund zur Beschwerde. Ich freue mich, darauf hinweisen zu können, daß
die kaiserlich-russische Regierung anläßlich der am 4. ds. gegen das kaiser-
lich-deutsche Generalkonsulat in Warschau verübten Ausschreitungen eine
sofortige befriedigende Remedur eintreten ließ. Der russische Minister des
Auswärtigen Graf v. Lambsdorff hat unseren kaiserlichen Botschafter in St.
Petersburg sogleich gebeten, der kaiserlichen Regierung sein tiefstes Be-
dauern über die höchst beklagenswerten Vorkommnisse auszudrücken. Gleich-
zeitig ließ Graf v. Lambsdorff dem Botschafter keinen Zweifel darüber, daß
die deutsche Regierung zu der russischen das volle Vertrauen haben könne,
daß diese aus freien Stücken alle notwendigen Maßnahmen sofort und in
vollem Umfange ergreifen werde. Dies ist auch bereits geschehen und hat
uns jeden weiteren diplomatischen Schrittes gegenüber der kaiserlich russischen
Regierung in dankenswerter Weise enthoben. Der Generalgouverneur von
Warschau, die Spitzen der Civil= und Militärbehörden, unter diesen insbe-