Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebzehnter Jahrgang. 1901. (42)

              Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder        (Januar.)        25 
Verwaltung“, so heißt es in der Verfassung. Sie werfen mir eine Ver- 
letzung der Verfassung vor. Ich könnte den Spieß umkehren und sagen, 
daß die einen Angriff auf die Verfassung machen, die es unternehmen, 
dieses Kronrecht anzutasten. (Lärm links, Beifall rechts.) Die Verant- 
wortung für das, was geschehen ist, trage ich und kann ich tragen. — Auf 
eine Anfrage über den Konitzer Mord (1900 S. 51) sagt der Minister: 
Niemand mehr als die Justizverwaltung und er für seine Person könne 
bedauern, daß der gräßliche Mord bis jetzt vollständig ungesühnt geblieben 
ist. Keinen der Beamten treffe der Vorwurf, daß er sich einer pflicht- 
widrigen Unterlassung schuldig gemacht habe und daß man am Anfang 
der Untersuchung nicht energisch genug vorgegangen sei. Man fragte bei 
der Untersuchung nicht, ob der Mörder ein Jude oder Christ sei. Ich 
machte dem Oberstaatsanwalt zur Pflicht, mit der Untersuchung des Mordes 
sich nach jeder Richtung hin zu beschäftigen. Der Herr ist berühmt wegen 
seiner Sachlichkeit; er setzte sein ganzes Können an die Aufklärung des 
Mordes. Das Resultat ist gleich Null. Die Kriminalpolizei und Staats- 
anwaltschaft sind fortgesetzt beschäftigt, auch das kleinste Anzeichen weiter 
zu verfolgen. 
              In der weiteren Debatte treten die Redner der Rechten und des 
Zentrums dem Minister bei; ein Antrag der Freisinnigen, der sich gegen 
die Praxis der Regierung richtet, wird abgelehnt. — Die Presse der Linken 
greift den Justizminister scharf an. 
              Januar. Preßdebatte über Bülows wirtschaftspolitische 
Stellung. 
          Die Erklärungen des Grafen Bülow über den Schutz der Land- 
wirtschaft werden von den agrarisch gesinnten Blättern mit Sympathie 
begrüßt, während die Presse der Linken darin die Absicht steht, die extrem- 
sten Forderungen der Agrarier erfüllen zu wollen, und die preußische Re- 
gierung heftig angreift. Die offiziöse „Berliner Korrespondenz“ schreibt 
dazu: „Die Hauptstücke aus dem Arsenal der Gegner der Agrarzölle sind 
namentlich aus den Volksversammlungen, in denen Freisinnige, National- 
soziale und Sozialdemokraten zum Kampfe aufriefen, sowie aus einer ganzen 
Serie theoretisierender Flugblätter und Vorträge hinlänglich bekannt. In 
allen diesen rednerischen und publizistischen Auslassungen wird mit beson- 
derer Vorliebe gegen den ,,Brotwucher" geeifert. Unter dieser Parole sind 
die demokratischen Heerscharen aller Schattierungen, zumeist unterstützt von 
einzelnen wirtschaftspolitischen Doktrinären, seit mehr als zwei Dezennien 
bei jeder Debatte über das vom ersten Reichskanzler inaugurierte wirt- 
schaftspolitische Programm ins Feld gezogen. Den gegenwärtig aufs neue 
sich erhebenden Klagen über „Brotwucher“ wird man wie früher so auch 
jetzt eine wesentliche Bedeutung nicht beimessen dürfen. Die den „Brot- 
wucher“ vermeintlich bedingenden Getreidezölle haben den gewaltigen Auf- 
schwung der deutschen Industrie und die außerordentliche Verbesserung in 
der Lebenshaltung des deutschen Arbeiterstandes nicht aufgehalten, haben 
vielmehr, als ein hochwichtiges Glied in der Kette der nationalen Wirt- 
schaftspolitik, unserm wirtschaftlichen Gedeihen manche neue Antriebe zu- 
geführt. Es muß auch dahingestellt bleiben, inwieweit die in Aussicht ge- 
nommene Steigerung der Getreidezölle eine Brotverteuerung zur Folge 
haben wird. Jedenfalls läßt die Thatsache, daß die Getreide- und Brot- 
preise in Deutschland in Zeiten mit äußerst niedrigen oder gar nicht vor- 
handenen Getreidezöllen beträchtlich höher standen, als es gegenwärtig der 
Fall ist, erkennen, daß nicht lediglich der Zollpolitik die Verantwortung 
für die Gestaltung der Brotpreise aufgebürdet werden kann.“