152 Das Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oltober 18.)
Bewegung; sie begann nach langem Suchen und Tasten, nach harter Ar-
beit und Selbstzucht sich neue Formen zu schaffen für ihr Leben in
Kirche, Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft. Das
Bewußtsein, daß eine neue reichere Zeit für Deutschland angebrochen sei,
beherrschte die Gemüter und erfüllte sie mit Furcht oder Hoffnung, mit
fieberhafter Erregung. Und dieses zum Herrschen berufene Paar stärker
als alle anderen; kein zweites war 40. voll von Träumen, Gedanken und
Plänen; keines so mutig im Verlassen des Alten und Ergreifen des Neuen;
keines so erfüllt mit Hoffnung und Vertrauen auf die Zukunft. Unter
den strebenden, ringenden Zeitgenossen zeichneten sie beide in innigster
geistiger Gemeinschaft sich aus durch ihren Eifer und Enthusiasmus für
die neuen höheren Ziele, für die freiere Entwicklung aller Kräfte, für die
reichere Entfaltung des Volkslebens. Unter der idealistisch gestimmten
Generation ragten sie beide in vollster Seelenharmonie hervor durch ihren
hochfliegenden Idealismus, den einzuschränken die Wirklichkeit in ihrem
kurzen Dasein keine Zeit gefunden. Darum beginnt dieses Paar, der
Tradition entgegen aber mit Recht hier nebeneinander nach dem Abschluß
der Markgrafen, Kurfürsten und Könige die neue Reihe der Kaiser, denen
höhere und schwierigere Aufgaben gestellt sind als jenen, zu deren Lösung
sie höheren Schwung, stärkeren Idealismus nötig haben. Darum werden
die kommenden Generationen mit dankbarer Verehrung an der Spitze einer
neuen Hohenzollernreihe dieses strahlende Paar stehen sehen, welches seinen
idealistischen Sinn auf alle realistischen Nachkommen vererben kann. Sie
stehen hier am Eingang als glänzende Repräsentanten der schwärmerischen
illusionsreichen Jugend des Deutschen Reichs und als leuchtende Personi-
fikationen der Kulturbegeisterung, welche sie charakterisierte, und welche die
deutschen Kaiser als Führer des vornehmsten Kulturvolks der Erde be-
seelen soll. So werden diese Marmorbilder hier trotz ihres Märtyrerscheins
zu einer glücklichen Vorbedeutung für die Zukunft des Reichs wie der
Dynastie. Unseren Gefühlen und Gesinnungen wollen wir dadurch Aus-
druck geben, daß wir ein stilles Glas auf das Andenken der Toten lehren.
18. Oktober. Der „Vorwärts“ veröffentlicht folgenden Auf-
ruf zu den preußischen Landtagswahlen:
An die Wähler zum preußischen Landtag! Wähler! Die Landtags-
wahlen nahen heran. Am 12. November finden die Urwahlen statt, in
welchen die Wahlmänner zu wählen sind, am 20. November finden als-
dann die Abgeordnetenwahlen statt, deren Wahl die am 12. November
gewählten Wahlmänner vorzunehmen haben. Die Urwähler wählen oben-
drein in drei Klassen, abgeteilt nach der Steuerleistung ihre Wahlmänner
und ist bei diesen, wie nachher bei den Wahlen der Abgeordneten, die
öffentliche Stimmenabgabe Vorschrift. Dieses sind mit wenigen Worten
gekennzeichnet die Grundlagen des Landtagswahlrechts, das nach dem Ur-
teil des Fürsten Bismarck im konstituierenden Norddeutschen Reichstag im
Jahre 1867 das elendste und erbärmlichste aller bestehenden Wahlgesetze
ist. Die kapitalistische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat den pluto-
kratischen Charakter dieses elendsten und erbärmlichsten aller Wahlgesetze
noch verschärft. Mehr als je zuvor ist es der durch die erste und zweite
Wählerklasse repräsentierte Besitz, der die Macht in den Händen hat und
über den Ausgang der Wahlen entscheidet, wohingegen die große Masse
der in der dritten Wählerklasse vereinigten Wähler nur dann ausschlag-
gebend wirken kann, wenn sie in den Parteiungen der ersten und zweiten
Wählerklasse das Zünglein an der Wage bildet. Gestützt auf diese Mög-
lichkeit hat die Sozialdemokratie den Beschluß gefaßt, sich an den bevor-