22 JZas Neutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 19./23.)
nehmen herrscht. Ich möchte besonders betonen, daß die deutsche Regie-
rung und die englische Regierung in gegenseitiger Loyalität vorgegangen
sind. Um so auffälliger ist die Erscheinung, die ja Ihnen, m. H., nicht
entgangen sein wird, daß neuerdings ein Teil der englischen Presse die
deutsche Beteiligung oder Nichtbeteiligung an dieser oder jener schwebenden
politischen Frage nicht selten ohne Objektivität und hier und da mit
deutlichem Uebelwollen beurteilt. So war es z. B., als bekannt wurde,
daß England gegen die Erlaubnis zur Durchfahrt russischer Torpedoboote
durch die Dardanellen bei der Hohen Pforte protestiert hatte. Daß Deutsch-
land nicht auch protestierte, wurde von manchen englischen Blättern als
ein Akt deutscher Feindseligkeit gegen England gedeutet, obwohl doch jeder,
der unser Interesse an guten freundnachbarlichen Beziehungen zu Rußland
zu würdigen weiß, jeder, der die traditionelle deutsche Politik gegenüber
politischen Streitfragen auf der Balkanhalbinsel und im Orient kennt,
jeder, der auch nur die geographische Lage berücksichtigt, in orientalischen
Angelegenheiten von uns nichts anderes erwarten darf, als eine friedliche,
unparteiische und strikte Neutralität, die für keine der im Orient näher
beteiligten Mächte irgendwelche Feindseligkeit enthält. Noch merkwürdiger
war es, daß sich die englische Regierung infolge ihres Zusammengehens
mit uns im eigenen Lande ernsthaften Angriffen ausgesetzt sah. Denn bei
der gemeinsamen Aktion gegen Venezuela handelte es sich doch um eine
nach Umfang und Zweck von vornherein beschränkte und genau definierte
Aktion, durch welche den gleichartigen verletzten Interessen der Angehörigen
beider Länder gegenüber einem nicht gutwilligen Schuldner Genüge ge-
leistet werden sollte. Nichtsdestoweniger hat das Vorgehen Englands an
der Seite Deutschlands in manchen englischen Blättern, in manchen eng-
lischen Reden Anstoß erregt, und ein wild gewordener Poet von großem
Talent (Große Heiterkeit) hat sich infolgedessen sogar zu Verbalinjurien
gegen uns verstiegen. (Heiterkeit.) Ich halte es für nützlich, m. H., mich
über diese Erscheinungen ganz offen auszusprechen. Diese Erscheinungen
sind doch nur zu erklären aus einer gewissen Erbitterung des englischen
Volkes, die wiederum zurückzuführen ist auf die sehr heftigen Angriffe, die
ein großer Teil der kontinentalen Presse während des südafrikanischen
Krieges gegen England gerichtet hat. Vielleicht, m. H., haben deutsche
Blätter nicht einseitiger teilgenommen, als französische, belgische, russische
und italienische. Ich weiß auch wohl, m. H., daß angesehene Organe der
deutschen öffentlichen Meinung — ich habe ja dabei selbst mitgeholfen —
immer wieder an die alte Weisheit erinnert haben, daß Politik, und
namentlich auswärtige Politik, mit dem Kopfe und nicht nach dem Gefühl
geführt werden kann, und wenn der Abg. v. Vollmar gesagt hat, die deutsche
Politik gegenüber dem südafrikanischen Kriege wäre nicht in Uebereinstim-
mung mit dem Volksempfinden gewesen, so nehme ich gar keinen Anstand,
auch heute zu sagen, wie ich es mir zur Ehre rechne, daß ich auch in
diesem Falle unsere Politik zugeschnitten habe lediglich nach den dauernden
deutschen Interessen. Durch solche Volkserregungen, m. H., wird in allen
Ländern den Vertretern der auswärtigen Politik ihre Aufgabe sehr er-
schwert. Wenn vor 1900 Jahren der gute Horaz gesagt hat, quidquid
delirant reges, plectuntur Achivi, so liegt die Sache heute eher umgekehrt
(Heiterkeit); heutzutage sind es meist die Achivi, die es „anrichten“ und die
reges sollen es hinterher „ausmachen“. (Heiterkeit.) Deshalb haben die
Könige und Staatsmänner gerade dann die Pflicht, Besonnenheit, kaltes
Blut und ruhiges Urteil zu bewahren, wenn die Achiver sich ihren Leiden-
schaften überlassen, und deshalb freue ich mich, sagen zu können, daß in
den Beziehungen zwischen den Monarchen und zwischen den Kabinetten