Va Versche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 30.) 91
diese Reform des akademischen Studiums in die Wege geleitet, dann wären
alle anderen Fragen gleichgültig. Die Frage, über die sich vielfach die
Minister nicht einig sind, ob sechs oder sieben Semester, ist ganz gleich-
gültig, wenn sechs Semester gearbeitet werden. Aber wenn man vier
Bummelsemester und zwei andere Semester hat und ein siebentes verlangt,
so sagt man naturgemäß: das ist ein weiteres Bummelsemester. (Sehr
gut!l) Sobald wir die Garantie haben, daß das nicht eintritt, dann ist
die Frage gelöst. Auch die Frage, ob man beim ersten Examen neben
Zivilrecht öffentliches Recht und Nationalökonomie ordentlich prüfen soll,
wird für alle leicht zu beantworten sein, sobald ein ordentliches Studium
vorangegangen ist. Sobald die Leute sechs Semester wirklich studiert haben,
kann man die Juristen und Verwaltungsbeamten in Zivilrecht und öffent-
lichem Recht prüfen. Auch die Frage, die im Abgeordnetenhause erörtert
worden ist, ob wir in der Verwaltung zu viel Korpsstudenten und Adelige
haben, hat doch nur eine wirkliche Bedeutung, wenn wir sie in Verbindung
mit dem Studium betrachten. Nicht der Korpsstudent an sich wird an-
gegriffen, sondern das, daß er vier oder fünf Semester gebummelt hat.
Das ist der springende Punkt. Und wenn ich über diesen Punkt noch
etwas sagen darf, so möchte ich sagen, die Vorwürfe, die mein Kollege
Dr. Friedberg im Abgeordnetenhause erhoben hat, mögen vielfach unbe-
gründet und übertrieben sein, aber sie bezeichnen eine Stimmung, die nicht
bloß bei den oberen und mittleren Klassen, sondern auch in den weitesten
Volksschichten vorhanden ist. Es ist eine Stimmung, die sich auf die
Statistik stützt, vielleicht auch auf allerlei kleine Vorkommnisse, die in die
Oeffentlichkeit gedrungen sind. Meine Herren, ich kenne einen ganzen Sack
voll solcher Geschichten. Ich will nur zwei anführen. Ein früherer preu-
Hischer Minister des Innern hat sehr häufig, wenn ihm ein Beamter zum
ersten Male vorgestellt wurde, ihn zuerst mit der Frage begrüßt: In
welchem Korps waren Sie? Er hat nicht gefragt, wo haben Sie studiert,
sondern nur, in welchem Korps waren Siel! Ein Herr, den er so fragte,
hat ihm ohne weiteres stolz geantwortet: Ich war in gar keinem Korps!
Aber für viele ist das doch etwas unangenehm! Für viele Eltern entsteht
die Frage, muß ich meinen Jungen in ein Korps schicken, damit er Karriere
macht? (Unruhe.) Das ist eine natürliche Folge derartiger Fragen! Ein
anderer preußischer Minister des Innern war bei einer Weichsel-Ueber-
schwemmung in das Ueberschwemmungsgebiet gegangen. Es wurden ihm
sechs oder zehn Referendare oder Assessoren vorgestellt, die sich mit Lebens-
gefahr an den Rettungsarbeiten beteiligt hatten. Man erwartete, daß sich
der Minister über ihre kühnen Leistungen lobend äußern werde. Er soll
aber die einzelnen nur nach ihrem Korps und ihren Schmissen gefragt
haben. Und das wurde in den weitesten Kreisen erzählt. Ich bin über-
zeugt, daß sehr vielen jungen Leuten die Korps eine gute Erziehung geben.
Aber ich möchte doch im öffentlichen Dienst Leute seben, die von Jugend
auf eine gute Erziehung genossen haben, und das sind die, die etwas ge-
lernt haben. Und wir Professoren können wohl versichern — ich glaube
kaum, daß mir ein Dozent einer deutschen Universität widersprechen wird —,
so wie die Dinge liegen, sehen wir die Korpsburschen am allerwenigsten
in den Vorlesungen und noch weniger in den Seminaren. Das ist eben
die Kehrseite! Daß aus den Beamten= und Offiziersfamilien die Söhne
sich dem Staatsdienst widmen, ist eine alte preußische Ueberlieferung.
Wenn auch aus unserem reichen Adel eine erhebliche Anzahl Leute im
Staatsdienst ist, so halte ich das auch für einen großen Vorzug, für keinen
Fehler. Meine Herren, die höheren Klassen vom Staatsdienst auszu-
schließen, ist immer gänzlich falsch. Die französischen Zustände aus der