Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13. 14.) 3 
Seuche sind eingeleitet worden. Es wurden auch die Gruben untersucht. 
Bergarbeiter aus dem Rheinland und Westfalen dürfen in Sachsen ohne 
ärztliche Untersuchung nicht angelegt werden. In Elsaß-Lothringen wurden 
sieben Fälle ärztlich festgestellt; auch dort sind entsprechende Vorschriften 
ergangen. Aus anderen Staaten sind keine Fälle zur Kenntnis gekommen. 
Im Heere würden die Rekruten genau untersucht; es seien etwa 40 Fälle 
konstatiert. Der Vorredner verlangte, daß die ganze Bekämpfung der 
Wurmkrankheit in die Hände des Reiches gelegt und dem Gesetze über die 
Bekämpfung gemeingefährlicher Seuchen unterworfen werde. Das ist weder 
notwendig noch ausführbar. Nicht notwendig, weil die Einzelstaaten im 
Besitze der Mittel sind, um die Krankheit zu bekämpfen, nicht ausführbar, 
weil die Berghoheit nicht in den Händen des Reiches ruht. Das Reich 
müßte mangels Organe die Durchführung der Bestimmungen doch den 
Einzelstaaten überlassen. Es liegt nicht die geringste Veranlassung vor, 
finanzielle Lasten dem Reiche aufzulegen. 
Preußischer Handelsminister Möller: In Preußen sei die Wurm- 
krankheit bereits in den achtziger Jahren gelegentlich beobachtet worden, 
1896 seien die ersten Bestimmungen dagegen erlassen, 1900 seien sie ver- 
schärft worden. 1903 seien neue Bestimmungen veröffentlicht worden, u. a. 
solle, so mühsam es auch sei, die gesamte Arbeiterschaft der verseuchten 
Reviere untersucht werden. — Am folgenden Tage wird die Interpellation 
besprochen, wobei Abg. Hus (Soz.) bestreitet, daß genügend hygienische 
Maßregeln getroffen wurden; namentlich fehle es an frischem Wasser. 
Ferner benütze die Bergbehörde die Wurmkrankheit, um die Freizügigkeit 
der Arbeiter zu beschränken, was Handelsminister Möller bekämpft. 
Abg. Bekker (nl.) polemisiert gegen die sozialdemokratischen Angriffe auf 
die Aerzte. 
13./14. Januar. (Bayerische Abgeordnetenkammer.) Bei 
einer Debatte über die Beschlagnahme eines Witzblattes wegen un- 
sittlichen Inhalts kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen zwi- 
schen Liberalen, Sozialdemokraten und dem Zentrum über die Frei- 
heit der literarischen Kritik und über die Moral der Tagespresse. 
14. Januar. (Reichstag.) Beratung über die Versicherung 
der Handwerker. (Vergl. 1903 S. 132.) 
Abg. Dr. Becker (nl.) bringt folgende Interpellation ein: „Welche 
Schritte gedenkt die Regierung zu tun, um dem Wunsche der Handwerker, 
daß für selbständige Handwerker eine obligatorische Alters- und Invaliditäts- 
versicherung eingeführt werde, entgegenzukommen?" — Er führt aus, daß 
90 Prozent der Handwerker nur das Einkommen eines tüchtigen Arbeiters 
hätten. Der Handwerkerstand wünsche daher eine Zwangsversicherung ohne 
Rücksicht auf die Größe des Betriebes, die Regierung möge dem Wunsche 
nach Verbesserung der Lage des Mittelstandes entgegenkommen. Staats- 
sekretär Graf Posadowsky: Die sozialpolitische Gesetzgebung bezöge sich 
bisher nur auf unselbständige Staatsbürger und ein Verlassen dieses Stand- 
punktes würde zum sozialdemokratischen Staate führen. Wie die Hand- 
werker könnten auch Bauern und Kaufleute die Versicherung mit Staats- 
hilfe verlangen, dann ebenso Gelehrte und Künstler, kurz alle Staatsbürger, 
und das würde ernste finanzielle Gefahren bringen. Uebrigens wollten 
nicht alle Handwerker die Versicherung. Abg. Trimborn (3.): Es gehe 
allerdings vielen Handwerkern schlechter als Arbeitern, aber da sie nicht 
einig seien, sei eine obligatorische Versicherung unmöglich. Sie müßten 
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