Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (November 29.) 157 
einstweilen negative Ergebnis der deutsch-österreichischen Handelsvertrags- 
verhandlungen zweimal mit wonnigem Behagen als einen Mißerfolg 
unserer Staatsmänner. Die Wiener Unterhandlungen sind bekanntlich 
nicht von Oesterreich-Ungarn abgebrochen worden — man hätte den Grafen 
Posadowsky gern, sehr gern noch länger dort behalten —, sondern von 
Deutschland. Es gibt Stellen in Wien und Budapest, wo man wohl schon 
jetzt bedauert, daß man es dahin kommen ließ, wo man sich vielleicht sagt, 
es könne mit gewissen Einzelheiten des nächsten Handelsvertrages zwischen 
dem Deutschen Reich und Oesterreich--Ungarn ähnlich gehen, wie mit den 
Büchern der Sibylle. Mehrere Forderungen sind von Graf Posadowsky 
im Sinne des Reichskanzlers für immer zurückgewiesen worden; sie können, 
wenn es noch zu einem Vertrage kommen soll, in der bisherigen Gestalt 
von Oesterreich-Ungarn nicht wieder aufgestellt werden. Darin liegt der 
Mißerfolg, den, nach Ansicht des „Berliner Tagblatts", Deutschland davon- 
getragen hat. 
Die sozialdemokratische „Leipziger Volkszeitung“, geleitet von Franz 
Mehring (vgl. 1903 S. 139, 140) schreibt: „Die konservativen Wegelagerer, 
die Zentrumsgauner, die nationalliberalen Jesuiten und, als der oberste 
Philister, Eugen Richter fielen wie eine Horde Krippenreiter über die 
ahnungslose Minderheit her, der Hauptmann der Bande, der parlamen- 
tarische Strolch v. Kardorff, machte den Regisseur, der Reichsgerichtsrat 
Spahn illustrierte die deutsche Klassenjustiz in Permanenz durch einen 
niederträchtigen Staatsstreich, und der beschäftigungslose Advokat und 
Streber Bassermann gab zum erstenmal in seinem Leben einen juristischen 
Kommentar. Es ist heute überflüssig, an die schamlosen Bubenstücke, an 
die infame Affenbosheit dieses parlamentarischen Gesindels zu erinnern, 
das damals wie eine Sauherde über Geschäftsordnung und Verfassung 
hereinbrach und niedertrampelte, was ihm im Wege war. Jetzt hat sie 
samt der glorreichen Regierung, die am 13. Dezember zu dem Staatsstreich 
des Brotwuchers ihren Segen gab, ihr Geschick erreicht: Graf Posadowsky 
kehrt mit herabhängen Ohren zu seinem Chef zurück, der jetzt ganz der 
Gefangene der Agrarier ist: ein Bild hoffnungsloser Unfähigkeit und 
jämmerlicher Ohnmacht. Der Held vom 13. Dezember 1902!“ 
29. November. Der Reichstag tritt wieder zusammen. 
W.. November. (Stuttgart.) Mehrere große Gewerkschaften, 
wie die Buchdrucker und Metallarbeiter, beschließen, am 1. Mai 
keinen Umzug mehr zu gestalten. 
29. November. (Berlin.) Der Handelsvertrag mit Serbien 
wird unterzeichnet. 
29. November. (Sachsen.) Eine außerordentliche Landtags- 
session zur Regelung der Zivilliste tritt zusammen. 
Nach der Regierungsvorlage soll die Zivilliste des Königs unver- 
ändert bleiben, aber durch Wegfall einiger kleineren Posten soll Sachsen 
künftig  3797000 Mark anstatt wie bisher 4080000  Mark für die könig- 
liche Familie aufbringen. — Am 1. Dezember erklären sämtliche Redner, 
daß an eine Erhöhung der Zivilliste augenblicklich nicht zu denken sei und 
empfehlen Sparsamkeit in der Hofverwaltung. — Am 2. teilt der Haus- 
minister in der Kammerkommission mit, daß das bare Privatvermögen des 
verstorbenen Königs Georg sich auf nicht ganz 2 Millionen Mark beziffert. 
Von diesem Vermögen sei auf den jetzt regierenden König nichts über-
	        
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