Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 161
aber positive Vorschläge zur Besserung. Das Zentrum habe im Jahre 1900
für Deckung der Kosten der Marinevorlage gesorgt. Bei neuen Steuer-
projekten müßten die Arbeiter und der Mittelstand geschont werden.
Monopole seien ausgeschlossen. Die Neutralität im ostasiatischen Kriege
sei zu billigen, ebenso die Bemühung des Reichskanzlers mit England gute
Beziehungen herzustellen. Was die Handelsverträge angeht, so dürfen wir
wohl damit rechnen, daß wir im Laufe der nächsten Woche eine Anzahl
der abgeschlossenen Handelsverträge hier vorgelegt erhalten. Es mag sein,
daß uns über den Stand der Verhandlungen mit Oesterreich hier keine
Mitteilungen gemacht werden können, aber ich glaube, von unserer Seite
ist es angängig, wenn wir es aussprechen, daß Oesterreich, wenn es sich
etwa in dem Glauben befinden sollte, wir würden, wenn ein Tarifvertrag
nicht zustande kommt, ihm die Klausel der Meistbegünstigung zuteil werden
lassen, sich darin irrt. Wir können uns nicht Oesterreich gegenüber binden,
während Oesterreich uns gegenüber in der Lage wäre, jede Tarifposition
so zu halten, wie sie seinem Interesse entspricht. Abg. Bebel (Soz.) tadelt
die Ausgaben für Südwestafrika ohne den Reichstag einzuberufen als in-
konstitutionell. Der Etat werde alljährlich schlechter, und die Hauptschuld
daran trage das Zentrum, das der Militär- und Marinepolitik zugestimmt
habe. Die Kosten für Südwestafrika seien weggeworfen; es sei durchaus
unpolitisch, die Behauptung der Kolonie bei ihrer Wertlosigkeit als Ehren-
sache zu behandeln. Die Militärvorlagen seien ganz wertlos; durch Aus-
merzung des Paradedrills könne man viel Zeit ersparen und die wirkliche
allgemeine Wehrpflicht mit kurzer Dienstzeit und allgemeiner kriegerischer
Ausbildung von Jugend auf durchführen. — Das Scheitern des öster-
reichischen Handelsvertrages sei eine Blamage für die Regierung und die
Mehrheit. Ohne den japanischen Krieg würde auch Rußland nicht abge-
chlossen haben. Bei neuen Steuern müßten die hohen Einkommen aus-
chließlich belastet werden. Unter scharfen Angriffen auf Rußland erklärt
Redner, die Regierung nehme offen Partei für Rußland im japanischen
Kriege und scheine, sich durch einen Vertrag zur Auslieferung russischer
Deserteure verpflichtet zu haben. Die inneren Zustände Deutschlands zeigten
die größten Ungerechtigkeiten; Strebertum, Feigheit, Charakterlosigkeit,
Unterdrückung des Rechts sei die Signatur der Zeit.
Reichskanzler Graf Bülow: Der Abg. Bebel hat gemeint, die
Früchte eines großen europäischen Krieges würde in erster Linie die
Sozialdemokratie davontragen. Diese Auffassung halte ich für richtig, und
das ist ein Grund mehr, warum die Regierungen aller großen Länder,
wie ich hoffe, festhalten werden an ihrer jetzigen guten und besonnenen
Friedenspolitik. Das ist aber auch wohl der innere Grund für die Art
und Weise, wie die Sozialdemokratie sich zu dem ostasiatischen Konflikt
gestellt hat. Ich habe schon im vergangenen Frühjahr hier einen Aufsatz
eines der erleuchtetsten Köpfe der sozialdemokratischen Partei vorgelesen,
des Dr. Kautsky, wo eingehend dargelegt wurde, die Sozialdemokratie müsse
den gegenwärtigen ostasiatischen Krieg benutzen, um überall die Diktatur
des internationalen Proletariats vorzubereiten. Die Sozialdemokratie will
ja gar nicht, daß wir dem ostasiatischen Krieg gegenüber neutral bleiben.
In Wirklichkeit möchte die Sozialdemokratie uns gegen Rußland verhetzen,
sie möchte einen Druck der öffentlichen Meinung hervorbringen, um unserer
auswärtigen Politik Schwierigkeiten zu bereiten, um uns Hindernisse in
den Weg zu legen und am letzten Ende nun ein kriegerisches Durcheinander
hervorzurufen, bei dem dann ihr Weizen blühen würde. Wenn die deutsche
Sozialdemokratie wirklich eine neutrale Haltung gegenüber dem ostasiatischen
Kriege wollte, so würde der Führer dieser Partei sich nicht in solchen An-
Europäischer Geschichtskalender. XLV. 11