Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 163 
tempo die Sache verfolgt u. s. w. Weiter heißt es, die deutsche Regierung 
müsse Genugtuung verlangen, wenn sie nicht länger der Verachtung anderer 
Nationen preisgegeben sein wolle. (Unruhe,) Die radikale Presse sekun- 
dierte in diesem Falle der sozialdemokratischen. Die „Volkszeitung“ brachte 
einen schneidigen Artikel mit der Ueberschrift „Bülow heraus!“ (Stür- 
mische Heiterkeit.) Als zur Befriedigung aller vernünftigen Leute der 
Zwischenfall bei der Doggerbank seinen akuten Charakter verlor, da schrieb 
der „Vorwärts“, der jetzige Ausgang des Konfliktes ist für England keines- 
wegs so rühmlich, wie es anfangs den Anschein hatte; es hat trotz allen 
Säbelrasselns ziemlich klein beigegeben. Dasselbe sozialdemokratische Blatt, 
das so oft behauptet hat, die Konflikte gingen hervor aus der gegenwär- 
tigen Ordnung der Dinge, aus der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschafts- 
ordnung, das so oft erklärt hat, im Zukunftsstaat, in der Zukunftswelt 
gebe es keine Kriege und keine Konflikte. Der Gipfelpunkt aber war, daß 
anläßlich des Huller Zwischenfalles, bei dem wir nicht beteiligt waren und 
der uns nichts anging, der „Vorwärts“ uns im Namen der sozialdemo- 
kratischen Partei aufforderte, sofort einen energischen Protest gegen Ruß- 
land zu erlassen. (Heiterkeit.) Damals schrieb er: „Schon der Fall mit 
der englischen Fischerflottille hätte internationale Schritte veranlassen müssen. 
Alle Nationen hätten ein großes Interesse, daß den Russen das Handwerk, 
das die Fahrzeuge aller Nationen bedrohe, so rasch wie möglich gelegt 
werde. Nachdem aber noch andere Fälle hinzugekommen sind und wahr- 
scheinlich auch ein deutsches Fahrzeug von den Russen bombardiert ist, be- 
deutet es die gröblichste Mißachtung des Volkes, daß nicht sofort alle 
Staaten gegen das Vorgehen der Russen geharnischten Protest erheben, 
bezw. den Protest Englands zu ihrem eigenen machen.“ Nun, ich hoffe, 
daß Sie diese Reizbarkeit Ihres Nationalgefühls auch bei anderen Gelegen- 
heiten zeigen werden! (Sehr gut! Sehr richtig! rechts, große Heiterkeit.) 
Und ich verstehe nicht, wie unter solchen Umständen der Abg. Bebel nicht 
mit beiden Händen für die Forderungen meines verehrten Kollegen, des 
Herrn Kriegsministers v. Einem, gestimmt hat. (Große Heiterkeit.) Ich 
hoffe, daß er bei jedem Anlaß uns die Mittel bewilligen werde, zu Lande 
und zu Wasser, zu einer so kampfbereiten Politik, wie er sie in seinem 
Leiborgan empfiehlt. Daß es mit dem großen Mund allein nicht getan 
(Große Heiterkeit), will ich gern zugeben. Nun hat der Abg. Bebel auch 
gesprochen von unserer angeblichen Würdelosigkeit, das war, glaube ich, 
der Ausdruck von dem Mangel an Selbständigkeit gegen Rußland. Da- 
von ist gar keine Rede. Wir dürfen uns aber auch nicht van ihm mit 
Rußland brouillieren lassen. Angriffe, wie sie Herr Bebel soeben gegen 
Rußland gerichtet hat, sind doppelt bedauerlich während eines Krieges, wo 
die Empfindungen und Leidenschaften geschärft, wo die Empfindlichkeit 
doppelt groß ist, da soll sich der Unbeteiligte eines möglichsten Taktes be- 
fleißigen (Sehr wahr! rechts), einer Eigenschaft, die freilich unter den 
Menschen sehr verschieden verteilt ist. (Heiterkeit.) Der Abg. Bebel hat 
auch den Königsberger Prozeß berührt. Ueber die Voraussetzungen, unter 
denen dieser Prozeß eingeleitet worden ist, über die Art und Weise, wie 
er geleitet worden ist, über den Gang und über die Modalitäten dieses 
Prozesses wird sich der preußische Justizminister an zuständiger Stelle 
(Aha! bei den Soz.) aussprechen. Ich für meine Person aber möchte 
Ihnen das Folgende sagen: Die Kritik, die an diesem Prozeß geübt wor- 
den ist, bewegt sich auf dem Gebiete der Verschiedenheit der juristischen 
Auffassung. Wenn Fehler begangen worden sind, so liegen sie auf dem 
Gebiete der juristischen Meinungsverschiedenheit und Theorie. (Aha! bei 
den Soz.) Es handelt sich hier aber nicht um theoretische Fragen, nicht 
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