Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

164 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 
um juristische Formfragen, sondern um die in Königsberg festgestellte Tat- 
sache, daß die deutsche Sozialdemokratie mit Bewußtsein daran arbeitet, 
die in Rußland bestehende Ordnung der Dinge umzustürzen (Große Un- 
ruhe bei den Soz.), um die Tatsache, daß zu diesem Zweck sozialistische 
und anarchistische Schriften nach Rußland verbreitet werden, daß auch 
sozialdemokratische Schriften dorthin geschickt worden sind, die den Zweck 
verfolgen, die russische Regierung zu stürzen. Wenn wir solche direkt gegen 
die Regierung eines uns befreundeten Landes gerichteten Treibereien pas- 
sieren ließen, so würden wir damit unsere friedlichen Beziehungen zu 
diesem Nachbar gefährden. Wenn es in Rußland so zuginge wie in Da- 
homey, so hätten wir allerdings nicht feindliche Handlungen gegen eine 
im völkerrechtlichen Sinne uns befreundete Regierung zu verhindern. (Ruf 
bei den Sozialdemokraten: Das ist unwürdig!) Ich höre den Zwischenruf 
„Unwürdig". Ein solcher plumper Angriff reicht nicht an mich heran, er 
fällt auf den zurück, der diesen Ton in unsere Verhandlungen einführt. 
Die Verhandlungen in Königsberg haben keinen Zweifel an der Schuld 
der Angeklagten nach dieser Richtung gelassen, ebensowenig daran, daß die 
deutsche Sozialdemokratie mit Bewußtsein die Tendenz befolgt und eine 
Tätigkeit entfaltet hat, die, wenn sie ungehemmt vor sich ginge, unser Ver- 
hältnis zu Rußland schädigen und beeinträchtigen würde. Die deutsche 
Sozialdemokratie hat offen erklärt, daß sie die Zustände in Rußland um- 
stürzen wolle. Der sozialdemokratische Verteidiger in Königsberg, Herr 
Liebknecht, hat erklärt, es wäre die vornehmste Aufgabe der deutschen 
Sozialdemokratie, tatkräftig zur Befreiung des russischen Volkes mitzu- 
wirken, das heißt doch mit dürren Worten, Rußland anrempeln und einen 
Krieg mit Rußland entfachen. In einer Berliner Volksversammlung hat 
der Abg. Liebknecht (Zwischenrufe), der durchgefallene Abg. Liebknecht 
(Heiterkeit), erklärt, daß jeder freisinnige deutsche Mann es für seine Pflicht 
halten müsse, die Bestrebungen der russischen Parteigenossen zu unterstützen 
(Stürmischer Beifall bei den Soz., Heiterkeit), nicht nur jeder Partei- 
genosse, sondern jeder freisinnige Mann müsse dafür eintreten, daß der 
russische Despotismus gestürzt werde. (Stürmischer, langanhaltender Bei- 
fall bei den Soz.) In derselben Rede äußerte Herr Liebknecht am 30. Juli 
über die Ermordung des russischen Ministers Plehwe: „Gestern eilte die 
Kunde durch die Stadt, daß der Minister v. Plehwe tot sei, daß der Blut- 
hund von Wilna (Minutenlanger, tosender Beifall bei den Soz.) gerecht 
gerichtet worden ist. Der Täter von gestern ist ebenso mutig gewesen wie 
der vor wenigen Tagen in Finnland; auch er hat das eigene Leben ein- 
gesetzt, er wollte das Volk vom Tyrannen befreien. Ein ehrendes An- 
denken ist diesen Märtyrern sicher; es sind edle Menschen, die den Namen 
Heroen verdienen. Wir müssen diese Bestrebung unterstützen; ich werde 
ihnen Schriften schicken, so viel ich kann, und bitte alle Sozialdemokraten, 
dasselbe zu tun.“ (Stürmischer Beifall bei den Soz.) Und da wollen 
Sie bestreiten, daß Sie zu feindlichen Beziehungen mit Rußland treiben 
und daß Sie uns in kriegerische Verwicklungen mit Rußland bringen 
würden, wenn Sie das Heft in die Hand bekommen, nachdem Sie uns 
vorher durch die Einführung Ihres bekannten Milizsystems wehrlos ge- 
macht hätten? (Große Unruhe links, Zustimmung rechts.) Nun ist der 
Abg. Bebel auch gar nicht einverstanden damit, daß ich einen englischen 
Journalisten empfangen habe. Ich möchte den Herrn Abg. Bebel dabei 
auf zweierlei hinweisen: einerseits darauf, wie ich nicht glaube, daß ich 
Mr. Bashford irgend etwas gesagt habe, was für das deutsche Publikum 
etwas Neues gewesen wäre. Ich habe ihm nur das gesagt, was nach 
meiner Ansicht die große Mehrheit der verständigen Leute — ich unter- 
  
 
	        
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