Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

170 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 
zunächst gemeint, es sei ein Unterschied zwischen der Haltung einer Partei 
und zwischen den Handlungen einer Regierung. Das kann ich nicht zu- 
geben. Die Annahme, es sei gleichgültig, wie die Parteien, wie die Presse, 
wie das Parlament sich stellen zu den großen Fragen der auswärtigen 
Politik, trifft heute nicht mehr zu. Wir gewinnen nicht an Ansehen, wenn 
schwierige, verwickelte, heikle Fragen der internationalen Politik lediglich 
vom Parteistandpunkt aus behandelt werden. Gerade so wie man wäh- 
rend des südafrikanischen Krieges auf falschem Wege war, als man sich 
von dem Gefühl leiten ließ, als man das vermeintliche moralische Recht 
oder Unrecht mit nationalen Vorurteilen beurteilte (Zustimmung), so ist 
man heute auch auf verkehrtem Wege, wenn man sich in der auswärtigen 
Politik nur von Gefühlsregungen oder gar nur von Fraktionsrücksichten 
bestimmen läßt. (Erneute Zustimmung.) Ich wiederhole nochmals: Wir 
halten Rußland gegenüber fest an demjenigen Maß von wohlwollender 
Neutralität, das unserem traditionellen Verhältnis zu Rußland entspricht, 
ohne daß wir damit den anderen Mächten, die mit uns in einem Allianz- 
oder Freundschaftsverhältnis stehen, irgend welchen Grund zu berechtigtem 
Mißtrauen oder berechtigter Beschwerde geben. Ich kann nur wünschen, 
daß alle Parteien, die öffentliche Meinung, die Presse dieselbe Linie ein- 
halten mögen. Der Deutsche hat eine unglückliche Sucht, eine unglückliche 
Hand — ich will das ganz offen aussprechen — sich in fremde Händel 
einzumischen. Dabei kommt praktisch nicht viel heraus. Es ist ein Mangel 
an politischer Erziehung, wenn bei uns weite Kreise sich hineinleben oder 
sich hineintreiben lassen in eine so heftige Parteinahme und dabei womög- 
lich noch denken, es schadet nichts, wenn die Regierung sich nur korrekt 
verhält. Je größer der Einfluß der Organe der öffentlichen Meinung, der 
Abgeordneten und der Presse, geworden ist, auch für Fragen der auswär- 
tigen Politik, umsomehr müssen sie sich auch bewußt werden der Verant- 
wortlichkeit, die auf ihnen ruht, und der Schwierigkeiten, die aus der 
Erregung von Volksleidenschaften für den Gang unserer auswärtigen Po- 
litik erwachsen. Nun will ich gern anerkennen, daß unsere große Tages- 
presse sich gegenüber dem ostasiatischen Kriege einer anerkennenswerten Ruhe 
und Besonnenheit befleißigt. Ich will darauf nicht näher eingehen, da 
aber der Abg. v. Vollmar diese Frage noch einmal angeschnitten hat, so 
will ich hinzufügen, daß zu meinem Bedauern ich dasselbe nicht von der 
Witzpresse sagen kann. Geradeso, wie unsere Witzpresse während des süd- 
afrikanischen Krieges maßlos heftige Angriffe und Schmähungen gegen 
England gebracht hat, so überschüttet diese Presse jetzt einen der beiden 
Gegner im russisch-japanischen Kriege mit Hohn und Spott. Das ist um 
so bedauerlicher angesichts der bewiesenen Tapferkeit der Angegriffenen. 
Ich gönne der Witzpresse alle nur mögliche Freiheit — über mich möge 
sie schreiben, was sie will. (Große Heiterkeit.) Ich gebe ihr vollständige 
Maskenfreiheit — aber diese Freiheit muß ihre Grenze finden an einem 
gewissen Maß praktischer Einsicht, die die Presse verhindert, dem Auslande 
Material zu liefern zu Hetzereien gegen das deutsche Volk. Solche rohen 
Witze können mehr Schaden anrichten, als ein leidenschaftlicher Leit- 
artikel (Abg. Bebel ruft: Preßfreiheit) oder selbst Reden, wie wir sie in 
diesem Hause gehört haben. Es ist auch nicht ein mildernder Umstand, 
daß jene Sachen von Nichtpolitikern inspiriert sind. Heute muß die Nation 
die Fenster ersetzen, die ihre Presse einschmeißt. Dieses Gefühls der Mit- 
verantwortlichkeit für den Gang der auswärtigen Politik müssen wir uns noch 
mehr bewußt werden. (Beifall rechts.) Nun hat der Abg. v. Vollmar weiter 
gemeint, die Sozialdemokratie wolle keinen Krieg mit Rußland. Ja, dann 
müßte der Abg. v. Vollmar damit anfangen, Herrn Bebel zu verhindern, 
 
	        
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