Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

258 Italien. (Mai 16.18. 30.) 
16.|18. Mai. Erklärungen über das Verhältnis zu England, 
Deutschland, Osterreich. 
Auf eine Frage im Senat, warum Italien England im Feldzuge 
gegen den Mullah nicht unterstützt habe, erwidert Minister des Auswär- 
tigen Tittoni (16. Mai), daß Italien England alle möglichen Erleichte- 
rungen gewährt habe; es würde sonderbar sein, wenn Italien jetzt zum 
Kampfe schritte, wo England ihn beendet habe. Das habe England, nach- 
dem es mehr als 60 Millionen aufgewendet habe, getan, weil vielleicht 
der Erfolg des Kampfes der Kosten nicht wert war. Was Benadir an- 
lange, so müsse nach Wiederherstellung der Sicherheit dorthin der Strom 
der ländlichen Auswanderung gelenkt werden. Als einziger Hafen für die 
italienischen Schiffe sei Kisimayu zu wählen. Die Sklaverei sollte bald- 
möglichst abgeschafft, einstweilen aber in eine Hausleibeigenschaft umgewandelt 
werden. Der Benadir-Gesellschaft müßten künftig die staatlichen Befugnisse, 
die man ihr gegeben habe, wieder entzogen werden. 
Am 18. erklärt der Minister in der Kammer über die allgemeine 
Politik: Die Politik Italiens ist keine Politik des Balancierens, die eines 
großen Staates unwürdig wäre, sondern eine Politik der loyalen Auf- 
richtigkeit. Das Bündnis mit Deutschland ist nicht unvereinbar mit einem 
freundschaftlichen Verhältnis zu Frankreich. Ich erinnere in dieser Be- 
ziehung an die friedlichen Erklärungen des Reichskanzlers Grafen v. Bülow 
und an die des französischen Ministers des Auswärtigen Delcassé, der stets 
ein Freund Italiens war. Das französisch-englische Abkommen schädigt 
die Interessen Italiens im Mittelmeer nicht; dieselben sind völlig sicher 
gestellt. Die von Italien dem benachbarten Kaiserreich gegenüber befolgte 
Politik ist in jeder Hinsicht von Erfolg gekrönt, denn die Beziehungen 
zwischen den beiden Reichen sind von größtem, wechselseitigem Vertrauen 
getragen. Auch besteht eine volle Gleichförmigkeit der Anschauungen über 
die beiderseitigen Interessen in der Balkanpolitik; der mit der größten 
Offenheit gepflogene Meinungsaustausch bei der Zusammenkunft mit dem 
Grafen Goluchowski hat nützliche Ergebnisse gezeitigt. 
30. Mai. (Kammer.) Debatte über den Konflikt zwischen 
Frankreich und dem Vatikan. 
Auf eine Anfrage mehrerer Deputierten erwidert Ministerpräsident 
Giolitti, die päpstliche Protestnote (S. 244) sei Italien natürlich nicht 
mitgeteilt worden. Immerhin müsse er sich mit einer in ihr enthaltenen 
Stelle beschäftigen, die den König von Italien angehe und der Regierung 
einer befreundeten Nation Gelegenheit zu Erklärungen gegeben habe, die 
man niemals von ihr gehört habe und die für sich allein schon genügten, 
jede Erinnerung an vergangene Mißhelligkeiten zu verwischen. (Lebhafter, 
anhaltender Beifall.) Die Note sei eine Wiederholung der Protesterklä- 
rungen, die sich seit 34 Jahren immer wieder vernehmen ließen; jedoch 
habe Italien keinerlei Ursache, seine Politik infolge dieser Note zu ändern. 
Italien, das nichts zu fürchten habe, könne mit Ruhe der Ankunft der 
fremden Kongregationen entgegensehen. Wenn sie indessen Italien Ver- 
legenheiten bereiten oder die Gefühle der Italiener beleidigen sollten, so 
würde die Regierung ihre Pflicht tun und sie kraft des Gesetzes ausweisen. 
Die Politik der Regierung sei also keine schwache, sondern eine starke und 
würdige. Italien werde dem von Cavour vorgezeichneten Wege folgen. 
Die Regierung werde unbeirrt das Prinzip aufrecht erhalten, die Freiheit 
jedermanns in den Grenzen des Gesetzes zu respektieren. Die Regierung 
abe hinsichtlich der religiösen Frage keinen Grund, die bisher keselgt 
ichtung zu ändern.
	        
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