264 Italien. (Dezember 5. 8.)
5. Dezember. (Senat.) Ministerpräsident Giolitti erklärt
auf eine Interpellation über den Ausstand im September:
Der im September versuchte allgemeine Ausstand nahm gewiß
weitere Ausdehnung an als derjenige vom Jahre 1898. Es ist auch zu
Unruhen, aber nicht zu Verbrechen gekommen. So beklagenswerte Vor-
gänge, wie sie damals eintraten, sind ohne Blutvergießen nicht zu ver-
hindern. Daß der Bürgermeister von Mailand die wegen der Geburt des
Kronprinzen auf dem Stadthause gehißte Nationalflagge hat entfernen
lassen, weil es die Ausständigen verlangten, ist bedauerlich, die Regierung
mußte aber ein möglichst zweckentsprechendes Verhalten einschlagen, um
größere Uebel zu vermeiden. Uebrigens hat die Mailänder Einwohner-
schaft bei den Wahlen ihre scharfe Verurteilung der Leitung des Bürger-
meisters bekundet. Es handelte sich nicht um eine Frage der Verwaltungs-
wissenschaft, sondern der Staatsklugheit. Hätte man letztere im Jahre 1898
walten lassen, so wäre es nicht zu den jetzt eingetretenen Folgen ge-
kommen. Die Ursachen der Unruhen fallen der jetzigen Regierung nicht
zur Last. Es stehen nur zwei Wege offen, entweder es wird Gewalt an-
gewendet, oder aber den Dingen mit geringerer Gefahr für das Publikum
ihre Entwicklung Lelasen. Ich erinnere daran, daß dem Parlament jetzt
eine Vorlage auf Verstärkung der Polizeimannschaften und der Gendarmerie
zugegangen ist. Es muß eine den Anforderungen der öffentlichen Ordnung
entsprechende ausreichende Macht immer unter Waffen gehalten werden.
Auch in dieser Frage muß man dem Regierungssystem, das man ein-
schlagen will, Rechnung tragen. Das Land hat sich bei den Wahlen gegen
die Umsturzbestrebungen ausgesprochen. Es ist die Pflicht der Regierung,
diesem Zuge zu folgen, indem sie die Freiheit mit der Achtung vor dem
Gesetz in Einklang bringt. (Lebhafter Beifall.) — Hierauf wurde die
Sitzung geschlossen.
8. Dezember. (Kammer.) Schatzminister Luzzati legt das
Budget vor und sagt über die Finanzlage:
Das Rechnungsjahr 1903/04 habe einen Einnahmeüberschuß von
58½ Millionen Lire, und nach Abzug von mehr als zwölf Millionen für
Bahnbauten und nahezu 13 Millionen für Schuldentilgung einen Ueber-
schuß von fast 34 Millionen ergeben. Trotzdem die moderne Finanzpolitik
an dem Zuge kranke, daß die zu Mindereinnahmen führenden Steuer-
reformen gleichzeitig mit Mehrausgaben für die Bedürftigen auf Kosten
der Steuerzahler durchgeführt würden, sei doch für das gegenwärtige und
das nächstfolgende Rechnungsjahr ein Aktivüberschuß von mehr als zehn
Millionen Lire, ohne Aufnahme einer Anleihe zu erwarten. Die Metall-
Reserven, die fast ganz aus Gold bestehen, seien von 958 auf 1073 Mil-
lionen gestiegen, der Papiergeldumlauf nehme ab, das Geschäftsleben aber
steige und der Kurs der Banknoten sei fast stets höher als der der aus-
ländischen. Durch Auseinandersetzung mit den Bahngesellschaften erwachse
dem Staate eine Zahlungspflicht von fast einer halben Milliarde und eine
ebenso hohe auf zehn Jahre verteilte Ausgabe werde für Verbesserungen
des Bahnkörpers und des Materials erforderlich sein. Was die Handels-
verträge betreffe, so sei es Italien trotz der größten Schwierigkeiten ge-
lungen, mit allen Nationen wirtschaftlichen Frieden zu schließen. Man
hoffe dieses Werk durch einen neuen Vertrag mit Rußland zu vollenden.
Italien bemühe sich, mit Frankreich, Deutschland und der Schweiz einen
Staatenverein der an der Seidenweberei interessierten Staaten zu bilden.
Diese sollten gleich hohe Zölle erheben und versuchen, von anderen Län-