Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

20 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 4.) 
verhindert. Die Vorlage, die ein Kompromiß zwischen Regierung und 
Reichstag bilde, gestalte die Rechtslage der unschuldig Verhafteten besser 
und günstiger als in irgend einem anderen Lande. — Abg. Mommsen 
(fr. Vg.) und Abg. Gröber (3.) polemisieren gegen die Beschränkung der 
Entschädigungen, die zwei Klassen von Freigesprochenen schaffen würde. 
Abg. Heine (Soz.): Das Gesetz sei unbrauchbar. Die Gerichte würden 
sich nicht entschließen, eine unbedingte Freisprechung zu fällen, um den 
Staat nicht regreßpflichtig zu machen. — Die meisten Redner erhoffen von 
der Kommission eine Verbesserung des Gesetzes. Die Vorlage wird am 
4. Februar an eine besondere Kommission verwiesen. 
4. Februar. (Reichstag.) Beschluß der Budgetkommission 
über die Erhöhung der Oberstleutnantsgehälter. 
Die Regierung fordert eine Erhöhung sämtlicher Oberstleutnants- 
gehälter, sowie eine Erhöhung des Servis- und Wohnungsgeldes für paten- 
tierte Oberstleutnants. Nach mehreren Beratungen, in denen die Notwendig- 
keit der Erhöhung von der Linken bestritten wird, genehmigt die Kom- 
mission gegen die Stimmen der Linken einen Kompromißantrag Spahn (Z.), 
unter Wegfall des erhöhten Servis- und Wohnungsgeldzuschusses den pa- 
tentierten Oberstleutnants der Infanterie- und Pionierkorps eine pensions- 
fähige Zulage von 1150 Mark zu bewilligen.  
4. Februar. Im Preußischen Abgeordnetenhause fordert 
bei Beratung des landwirtschaftlichen Etats Abg. Hirsch (fr. Vp.) 
Aufhebung der Gesindeordnung und Ausdehnung der Koalitions- 
freiheit auf die Landarbeiter. Minister v. Podbielski lehnt diese 
Forderung ab, da die Ernte nicht von Streiks abhängig gemacht 
werden dürfe. 
4. Februar. (Baden.) Die Verfassungskommission der 
Zweiten Kammer über die Wahlrechtsvorlage (1903 S. 169). 
Die „Allgemeine Zeitung“ berichtet über die Generaldiskussion: Be- 
schlüsse wurden nicht gefaßt. In den Vordergrund trat die Einräumung 
des Budgetrechts an die Erste Kammer. Die Kommission war einmütig 
der Meinung, daß es bei dem gegenwärtigen Zustande bleiben sollte. Für 
diskutabel wurde nun allenfalls die zweimalige Beschlußfassung angesehen. 
Bei divergierenden Meinungen zwischen Erster und Zweiter Kammer müsse 
jedoch schließlich maßgebender das Votum der Zweiten Kammer sein. Nicht 
minder schwere Bedenken wurden geltend gemacht gegen die Verschiebung 
der Zahl der Abgeordneten zwischen Stadt und Land zu ungunsten letz- 
terer 25: 45, statt bisher 20: 43). Die Schwierigkeit gleichmäßiger Be- 
rücksichtigung liegt in der Aufrechterhaltung der Städteprivilegien. In 
bezug auf die Zusammensetzung der Ersten Kammer war die Kommission 
der Meinung, daß eventuell auch den gesetzlich organisierten Berufskörper- 
schaften der Arbeiter (Arbeitskammern, Arbeiterkammern) eine aus der 
Wahl hervorgehende Vertretung einzuräumen sei. Die Anregung der 
größeren Städte, eine Vertretung in der Ersten Kammer mittelst Wahl 
der städtischen Kollegien statt mittelst landesherrlicher Ernennung zu ge- 
währen, wurde überwiegend abgelehnt. Die Verleihung der erblichen Land- 
standschaft in der Ersten Kammer solle nach Meinung der Kommission auch 
fernerhin an die Verleihung der Würde des hohen Adels gebunden bleiben. 
Wenig Sympathie begegnete die Einräumung eines Stellvertretungsrechts 
 
	        
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