Rußland. (Juni Mitte—Juli 5.) 289
innerhalb eines übersehbaren Zeitraumes die wahre Darstellung des wirk-
lichen Zustandes an Ew. Majestät gelangen und daß Bobrikow abberufen
wird, bleibt nur noch übrig, zur Notwehr zu greifen und zu versuchen,
ihn unschädlich zu machen. Das Mittel ist gewaltsam, aber das einzige
Mittel. Da opfere ich mein eigenes Leben, um zu versuchen, Ew. Majestät
noch mehr davon zu überzeugen, daß im Großfürstentum Finnland, wie
in Polen und den Ostsee-Provinzen, ja im ganzen russischen Reich Miß-
stände herrschen. Meinen Beschluß habe ich nach reiflicher Ueberlegung
allein gefaßt. Majestät! Mit dem Tod vor Augen schwöre ich bei Gott,
daß hier keine Verschwörung vorliegt. Da ich das gute Herz und die edlen
Absichten Ew. Majestät kenne, bitte ich Ew. Majestät nur um das eine,
sich Klarheit über die wirklichen Zustände des Reichs zu verschaffen, dar-
unter eingerechnet Polen, Finnland und die Ostsee-Provinzen. Ich ver-
bleibe mit tiefster untertänigster Ehrfurcht Ew. Majestät alleruntertänigster
treuester Untertan Eugen Schaumann.“
Mitte Juni. (Warschau.) Bei Unruhen, die durch Militär
und Polizei unterdrückt werden, werden gegen 20 Menschen getötet.
27. Juni. (Finnland.) Der Senat erläßt folgende Kund-
gebung über die Ermordung des Gouverneurs:
Der Senat, der zum ersten Male seit dem Morde seines Präsidenten,
des Generalgouverneurs Bobrikow, versammelt ist, empfindet das Bedürf-
nis, seine tiefe Entrüstung über die hassenswerte und empörende, in den
Annalen des Landes ohnegleichen dastehende Freveltat auszudrücken, deren
Opfer der Generalgouverneur wurde. Alle wohlgesinnten Einwohner sprechen
in hohem Maße ihren Tadel über diese Tat aus. Der Senat richtet einen
ernsten Appell an alle wohldenkenden Einwohner, daß jeder in seinem
Kreise mit allen Kräften sich bemühe, mitzuarbeiten an der Wiederherstel-
lung der Ruhe und Ordnung im Lande, und daß jeder das Vertrauen zu
rechtfertigen suche, das das finnländische Volk seit seiner hundertjährigen
unauflöslichen Vereinigung mit dem mächtigen russischen Reiche von seiten
seiner Souveräne zu genießen das Glück hatte, unter deren wohlwollendem
Schutze Finnland sich in glücklichster Weise entwickelt hat auf geistigem
wie auf materiellem Gebiete.
5. Juli. (Finnland.) Generalleutnant Fürst Obolenski
wird zum Gouverneur von Finnland ernannt. Der Zar schreibt
ihm über seine Aufgabe:
Er sei überzeugt, daß die Lokalverwaltung und die Gesetzgebung,
welcher sich Finnland seit der Vereinigung mit Rußland erfreue, zum
Wohle Finnlands erhalten werden könne. Die Ermordung Bobrikows seie
nur die Tat eines Unsinnigen und weniger Gleichgesinnten gewesen. Das
finnische Volk habe sich an der ruchlosen Tat nicht beteiligt. Die Sorge
für den engsten Anschluß Finnlands an das Reich müsse die Staatsgewalt
unbeugsam sich angelegen sein lassen. Die allmähliche Erreichung dieses
Zieles habe er, der Kaiser, Bobrikow seinerzeit zur ersten Pflicht gemacht,
und von dem neuen Generalgouverneur erwarte er ebenfalls, daß er den
ihm erteilten Weisungen eifrigst nachkommen werde. Vor allem habe er
in dem finnischen Volke die Ueberzeugung zu festigen, daß dessen historische
Geschicke unauflöslich mit den Geschicken Rußlands verknüpft sind und das
fernere Gedeihen Finnlands unter russischem Szepter sowie die Zukunft
der Finnland gewährten Institutionen abhänge von der festen Einwurze-
lung eines friedlichen Laufes der Dinge im Lande.
Europäischer Geschichtskalender. XLV. 19