Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

294 Rußland. (September Ende.) 
und nichtig angesehen werden. Rußland könne und dürfe den Vertrag 
nicht anerkennen, weil er im offenbaren Widerspruch mit den im englischen 
Parlament abgegebenen Erklärungen stehe und mit dem englisch-russischen 
Uebereinkommen, nach dessen Bestimmungen sich England 1903/04 amtlich 
verpflichtet habe, keinerlei Aenderungen in dem politischen Status Tibets 
vorzunehmen. Schließlich wird betont, daß der Text des englisch-tibetani- 
schen Vertrages ein Zeuge der mala fides und der Ungeniertheit der eng- 
lischen Regierung sei. 
Ende September. (Petersburg.) Der Minister des Innern 
hält mehrere Programmreden. 
Seinen Beamten sagt er: Indem ich heute die mir durch das Ver- 
trauen des Monarchen übertragenen Pflichten übernehme, halte ich es für 
meine Pflicht zu erklären, daß der Leitung des mir anvertrauten Mini- 
steriums das Manifest vom 10. März zu Grunde liegen wird. Ich fordere 
Sie zu einer tätigen und selbstaufopfernden Mitarbeit besonders in dieser 
Richtung auf. Meine Erfahrung in der Verwaltung führt mich zur festen 
Ueberzeugung, daß eine fruchtbare Tätigkeit der Regierung sich auf auf- 
richtig wohlwollende und vertrauensvolle Haltung gegenüber den kommu- 
nalen und ständischen Institutionen und der Bevölkerung überhaupt gründet. 
Nur unter diesen Umständen kann bei der Arbeit gegenseitiges Vertrauen 
erzielt werden, ohne welches ein dauernder Erfolg bei der Verwaltung des 
Staates unmöglich ist. Indem ich Sie zu unausgesetzter Arbeit auffordere, 
vertraue ich auf Ihre Reife und Ihre Erfahrung, die mir helfen werden, 
das Ziel der bevorstehenden Arbeit zu erreichen. 
Einer Deputation des polnischen Adels erklärt er: Ich habe Sie, 
meine Herren, berufen, um mich mit Ihnen offen auszusprechen. Es ist 
nämlich zu meiner Kenntnis gelangt, daß die Polen unschlüssig sind, ob 
sie an der Feier der Enthüllung des Denkmals der Kaiserin Katharina 
teilnehmen sollen oder nicht. Ich begreife, daß Ihnen schwer zu Mute ist, 
da ja dieses Denkmal die Herren an die Teilung Polens erinnert, aber 
ich bitte Sie, lassen Sie sich diesmal nicht von Ihren Gefühlen, sondern 
von der Vernunft leiten. Wäre dieses Denkmal in Warschau errichtet 
worden, würde ich das gewiß für eine Taktlosigkeit halten, aber hier in 
Wilna ist dieses Denkmal vom Standpunkte des russischen Reiches ein Be- 
weis für die inzwischen eingetretene Beruhigung des Landes, ein Beweis 
einer neuen Aera und der nunmehr eingetretenen, von Ihnen so lange 
angestrebten Gleichberechtigung der Russen und Polen. Ich bitte Sie, allen 
den Beginn dieser neuen Aera bekannt zu geben. Die Herren kennen meine 
Intentionen. Ich habe schon, als ich die Stelle eines Generalgouverneurs 
in Wilna bekleidete, mich bemüht, Sie zur Mitwirkung im öffentlichen 
Leben heranzuziehen. Es ist mir auch gelungen, Sie in die Semstwos 
aufzunehmen, und wenn ich mich Ihnen gegenüber so als Gouverneur ver- 
halten habe, werde ich noch mehr als Minister und Vertrauensmann des 
Kaisers tun können. Als ich mit Sr. Majestät über die Frage der Tole- 
ranz sprach, erhob sich der Kaiser rasch von seinem Platze und rief leb- 
haft: „Das ist es eben, was ich wünsche!“ Damit ich aber für Sie mit 
Erfolg eintreten kann, müssen Sie mir behilflich sein und bei der Ent- 
hüllung des Denkmals erscheinen, damit der Bruder des Kaisers, welcher 
anwesend sein wird, es dem Monarchen berichten kann. Das ist meine 
Bitte. Erweisen Sie mir diesen wichtigen und größten Gefallen. 
Ende September. Die Regierung erläßt ergänzende Bestim- 
mungen über die Behandlung neutraler Schiffe: 
 
	        
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