Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

296 RKußland. (Oktober Ende.) 
wurden über 300 Flüchtlinge wieder eingebracht und viele andere, die zu 
fliehen versuchten, wurden getötet oder verwundet. Sozialisten rotteten sich 
zusammen und veranstalteten stürmische Versammlungen. Mit roten Fahnen 
durchziehen sie zahlreich größere Ortschaften und wiegeln die aufgeregte 
Menge noch mehr auf. In Bielany bei Warschau fanden blutige Schläge- 
reien zwischen polnischen Reservisten und russischen Soldaten statt. Ein 
polnischer Reservist wurde von einem russischen Offizier verhöhnt und ge- 
schlagen. Eine furchtbare Schlägerei zwischen Polen und Russen entspann 
sich; der Offizier wurde niedergeschlagen und getötet, viele Russen und 
Polen sind schwer verletzt worden. Sofort fand ein Kriegsgericht in War- 
schau statt und 22 Reservisten wurden standrechtlich erschossen. Die Ge- 
müter sind in Russisch-Polen sehr aufgebracht und es ist das Schlimmste 
zu befürchten. Gestern kam es auch in Radomstk zwischen Reservisten und 
russischen Soldaten zu Tätlichkeiten, wobei letztere sechs Reservisten er- 
schossen und etwa 20 bis 30 Reservisten verwundet haben. Die auf kurze 
Zeit vorläufig beurlaubten und nicht wieder pünktlich zurückgekehrten Re- 
servisten werden nachts aus den Betten ihrer Behausung von der Gendar- 
merie abgeholt und sofort nach Skierniewice zur weiteren Abschiebung ab- 
geschickt.“ Auch in südrussischen Städten finden Unruhen statt. 
Ende Oktober. Beschießung englischer Fischer durch die bal- 
tische Flotte. (Vgl. S. 232.) 
Die baltische Flotte beschießt in der Nacht vom 21. zum 22. Ok- 
tober 20 Minuten lang englische Fischerboote an der Doggerbank, die sie 
für japanische Torpedos hält. Mehrere Boote werden in den Grund ge- 
bohrt. Admiral Roschdestwensky berichtet, es sei niemals absichtlich auf 
Fischerboote gefeuert worden. Wenn ein verirrtes Geschoß eines der Boote 
getroffen habe, so sei dies reiner Zufall. Unter der Fischerflotte seien zwei 
mit großer Schnelligkeit fahrende Dampfer, die genau wie Torpedoboote 
aussahen, von den russischen Offizieren bemerkt worden. Der Admiral hat 
den Schluß gezogen, daß es japanische waren, und er habe geglaubt, sein 
Geschwader feuere lediglich auf diese beiden Schiffe. Seine Offiziere hätten 
durchaus nicht gewußt, daß eines der Fischerboote von einem Schuß ge- 
troffen worden sei. Der Admiral äußert sein und der ganzen Flotte Be- 
dauern darüber, daß irgend ein Fischerboot Schaden erlitten hätte und 
Personen getötet worden seien. 
Die Presse weist die englischen Forderungen ab. Die russische Flotte 
müsse vor japanischen Anschlägen auf der Hut sein, und die englische Re- 
gierung könne nicht garantieren, daß keine japanischen Torpedos unter den 
Fischern gewesen seien. Vielleicht habe gar England der russischen Flotte 
eine Falle gestellt; warum habe sie die englischen Fischer nicht auf das 
Herannahen der Flotte aufmerksam gemacht? Die kontinentale Presse er- 
klärt die Beschießung bald mit übergroßer Aengstlichkeit der russischen 
Admirale, bald mit Trunkenheit. Es wird auch behauptet, daß die bal- 
tische Flotte auf ihre eigenen Torpedoboote feuerte, die sie, als sie, um 
das Geschwader patrouillierend, plötzlich aus dem Nebel herauskamen, irr- 
tümlich für japanische hielt. Der Befehlshaber des zweiten Torpedobootes, 
der sich seinerseits von Japanern angegriffen glaubte, erwiderte das Feuer. 
28. Oktober. Rußland und England einigen sich, den Huller 
Zwischenfall einer Untersuchungskommission nach den Vorschriften 
der Haager Konvention zu übergeben. Am 26. November wird 
folgender Vertrag abgeschlossen: 
 
	        
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