Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Pußland. (Dezember 19.) 299 
Volke geben wollen. Hierbei muß Ich jedoch mit Bedauern die Aufmerk- 
samkeit darauf lenken, daß der ruhige Gang des sozialen Lebens im Lande 
durch den Widerstand, der von einem Teile der Bevölkerung Finnlands 
gegen Meine Anordnungen erhoben worden ist, in der letzten Zeit ver- 
schiedene Male gestört und im letzten Sommer durch die Ermordung des 
höchsten Vertreters der Reichsmacht in Finnland verdunkelt wurde. Es 
ist Mir zur Kenntnis gekommen, daß nach einer in Finnland verbreiteten 
Anschauung eine Abänderung und teilweise Abschaffung besonders der in 
letzter Zeit erlassenen Gesetze, sowie die zur Erreichung dieses Zieles unter- 
nommenen Schritte, eine notwendige Bedingung für die Wiederherstellung 
der Ruhe im Lande bilden sollen. Einige von diesen Gesetzen gestalteten 
inzwischen die Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Finnland und 
dem Kaiserreich noch fester, andere Gesetze dagegen beabsichtigten, der Reichs- 
macht die Mittel zur Unterdrückung des gegen sie gerichteten Widerstandes 
in die Hand zu geben. Diese letzterwähnten Gesetze sind jedoch im wesent- 
lichen nur von zeitweiliger Dauer. Es soll Mir zur Freude gereichen, die- 
selben aufzuheben, sobald der Militärgouverneur von Finnland Mir mit- 
teilt, daß die Verhältnisse, welche die Erlassung dieser Gesetze bedingt 
hatten, die Beibehaltung derselben nicht mehr fordern. Was dagegen die 
erstgenannten Gesetze angeht, zu welchen die Bestimmungen über die Wehr- 
pflicht von Finnland gehören, so habe Ich beschlossen, daß die Gesetze im 
Hauptprinzip ihren Charakter beibehalten sollen. Um jedoch mit größerer 
Genauigkeit das Verhältnis der Reichsgesetzgebung zu der lokalen finnischen 
Gesetzgebung zu bestimmen, habe Ich unter Würdigung der vom finnischen 
Senat gemachten Vorschläge Schritte getan, um einen Gesetzentwurf aus- 
zuarbeiten, betreffend eine Beschränkung dieser Gesetze. Indem Ich Mein 
Vertrauen zu Ihrer Gesinnung ausspreche, und in der Erwartung, daß 
Sie nach sachlicher Prüfung Ihre Kräfte den wichtigen Gesetzen und öko- 
nomischen Fragen, welche Ihnen vorgelegt werden, widmen werden, bitte 
ich zu Gott, daß er Sie erleuchten und seinen Segen auf Ihre Arbeiten 
niedersenden möge. Ich erkläre hiermit den Landtag für eröffnet. 
Dezember. Konstitutionelle Kundgebungen. 
Am 4. Dezember erklären in Petersburg 200 Rechtsanwälte, daß 
die Gerichtsreformen nicht als vollständig gesichert angesehen werden könnten, 
solange keine Sicherheit für die Unverletzlichkeit der Person und des Hauses, 
wie für die Preßfreiheit gegeben sei. — Am 5. schließt sich ihnen eine Ver- 
sammlung von Moskauer Aerzten, Anwälten und Journalisten an und 
fordert eine Volksvertretung. Am 7. beschließt die Landschaftsversamm- 
lung in Kaluga, dem Kaiser eine Ergebenheitsadresse zu senden, in der 
darauf hingewiesen wird, daß nur ein freies Wort aufrichtig und nur das 
Wirken gleichberechtigter, persönlich unverletzlicher Bürger produktiv sei. 
Nur ein freies Gewissen und das Gebet in offenen Gotteshäusern aller 
Glaubensbekenntnisse sei rein. Falls der Kaiser einst Volksvertreter zur 
staatlichen Mitarbeit beriefe, würden diese eine starke Macht bilden, um 
dem Monarchen zu helfen, das Land auf dem Wege der friedlichen Ent- 
wicklung aller geistigen und industriellen Kräfte zu fördern zum Wohle der 
zukünftigen Geschlechter und zum Ruhme der Regierung des Kaisers. — 
Am 15. weist der Minister des Innern die Forderungen der Rechtsanwälte 
nach Aenderung der Staatsform ab. 
13. Dezember. (Petersburg.) Zwei Möbrder Plehwes 
werden zu lebenslänglicher resp. zwanzigjähriger Zwangsarbeit 
verurteilt. 
  
 
	        
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