Türkei. (November Ende. 307
gänzlichen Repatriierung führen. In gewissen türkischen Regierungskreisen
ist freilich nur zu oft noch die Tendenz wahrnehmbar, althergebrachte Miß-
bräuche in der Verwaltung fortdauern zu lassen und jedweder Neuerung
einen passiven Widerstand entgegenzusetzen. Die ottomanische Regierung
ist jedoch schlecht beraten, wenn 1e, anstatt das Reformwerk, soweit es an
ihr liegt, loyal und tatkräftig zu fördern, bestrebt ist, demselben Hinder-
nisse in den Weg zu legen. Wesentliche Schwierigkeiten ergeben sich ferner
aus der revolutionären Propaganda der den Umsturz der türkischen Herr-
schaft anstrebenden geheimen Komitees, sowie aus dem tiefen Zwiespalt,
der zwischen den verschiedenen Elementen der einheimisch-christlichen Be-
völkerung herrscht und der in der letzten Zeit sogar eine Verschärfung
erfahren hat. Die kirchlichen und nationalen Streitigkeiten, welche zwischen
Exarchisten und Patriarchisten, zwischen Griechen, Serben, Bulgaren und
Walachen bestehen und zu den gewalttätigsten Ausbrüchen der Parteileiden-
schaft geführt haben, sind zu bekannt, um eine nähere Erörterung nötig
zu machen. Die Zivilagenten vertreten demgegenüber den Standpunkt des
unparteiischen Interesses der Mächte für sämtliche Bevölkerungselemente
des Landes, indem sie nach dem Prinzip vorgehen, daß revolutionären
Auswüchsen zwar auch auf kirchlichem Gebiete mit aller Entschiedenheit
entgegengetreten werden muß, die berechtigten Interessen der verschiedenen
Parteien aber eine um so sorgfältigere Berücksichtigung erheischen. Was
die Frage der Landesfinanzen betrifft, so ist dies der Punkt, dem nun-
mehr das Hauptaugenmerk der Reformorgane sich zuzuwenden haben wird.
Den türkischerseits zusammengestellten Daten zufolge würden unter nor-
malen Verhältnissen die Einnahmen der drei Provinzen nach Abzug der
Aufwendungen für den Dienst der auf ihnen lastenden Schulden und sämt-
licher Verwaltungskosten einen jährlichen Ueberschuß — nach Schätzung des
Generalinspektors 15 Millionen Francs — ergeben, der bei guter Finanz-
wirtschaft vollauf genügen sollte, um die Kosten des Unterhalts der in
gewöhnlichen Zeiten im Lande dislozierten Truppen zu decken. Zur Zeit
aber ist die Finanzlage der in Rede stehenden Provinzen eine vollständig
zerrüttete. Während der ganzen letzten Periode ist weder eine regelmäßige
Bezahlung der Beamten noch der Truppen möglich gewesen, Rückstände
von drei bis vier Monaten bilden die Regel. Unter diesen Umständen
erweist es sich natürlich als eine besonders komplizierte Aufgabe, auch noch
für die speziellen Auslagen aufzukommen, die mit der Durchführung ge-
wisser Punkte des Reformprogramms verbunden sind. Hierher gehören
vor allem der Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften und die definitive
Reinstallierung der zurückgekehrten Flüchtlinge. Dem Generalinspektor ist
für diese Zwecke ein Fonds von 35000 türkischen Pfund zur Verfügung
gestanden, der sich jedoch kaum ausreichend zeigte, um der notleidenden
Landbevölkerung über den Winter hinwegzuhelfen. Und doch ist eine Re-
konstruktion der zerstörten Bauernhäuser in ihrer früheren, zum Teil sehr
stattlichen Form eine unerläßliche Vorbedingung für eine definitive Sta-
bilisierung der Verhältnisse. Wie man sieht, reduziert sich die Reform-
frage in diesem Punkte, wie in so manchem anderen, auf eine Geldfrage.
Was nun die Herstellung des Gleichgewichts in den Landesfinanzen im
allgemeinen betrifft, so bildet dieselbe, insbesondere die Kontrolle der
Finanzgebarung in den einzelnen Details und die Aufstellung eines ge-
ordneten Einnahmen= und Ausgabenetats die nächste Aufgabe der Zivil-
agenten, an welche baldmöglichst herangetreten werden muß. Einzelne
Vorarbeiten hierzu sind bereits erledigt und die Einkassierung sämtlicher
Staatseinnahmen durch die Filialen der Ottomanbank angebahnt. Bezüg-
lich einer der wichtigsten Institutionen — der Gendarmerie — ist es
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