30 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 22.)
22. Februar. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Justiz-
etat. Beaufsichtigung russischer Anarchisten. (Vgl. S. 9.)
Abg. Friedberg (nl.) fordert nähere Aufklärung über den Königs-
berger Geheimbundsprozeß und das Verhalten russischer Polizisten in Deutsch-
land. Justizminister Schönstedt: Im Reichstag wurden die Dinge von
den Interpellanten als äußerst harmlos hingestellt, so daß nicht zu be-
greifen sei, wie die preußischen Behörden amtlich eingreifen konnten. Der
Hauptredner im Reichstag, der Abg. Haase, der Vertreter in den Königs-
berger Geheimbundprozessen, war sehr wohl informiert, stellte aber die
Sache als so unbedeutend hin, daß die öffentliche Meinung irre geführt
werden mußte. Die nach Rußland zu überbringenden Schriften sollten
durchaus harmlos sein. Daß sie hochverräterisch sein könnten, sollte schon
durch die Person des Uebersenders ausgeschlossen sein, der als ganz maß-
voller und loyaler Mann hingestellt wurde... Ich lege Wert darauf,
die Verhältnisse darzulegen, muß mir aber eine gewisse Zurückhaltung dabei
auferlegen. Ueber das Vorgehen der Polizeibehörden wird der Minister
des Innern Aufklärung geben. Im März vorigen Jahres kam es zur
Kenntnis der Staatsanwaltschaft in Königsberg, daß an verschiedeneu Orten
Ostpreußens bedeutende Mengen von Schriften in russischer Sprache auf-
gestapelt waren, um über die russische Grenze gebracht zu werden. Bei
Nachforschungen ergab sich, daß dieser Vertrieb nach Rußland schon seit
Jahren betrieben wurde von der Schweiz, speziell Zürich aus, teils auf
dem See-, teils auf dem Landwege, und zwar mit dem Auftrage, die
Schriften an russische Agenten weiterzugeben. Aus verschiedenen Anzeichen
und aus gefundenen Briefen ging hervor, daß die Schriften hochverräteri-
schen Inhalts waren und daß alles getan war, das Bekanntwerden dieser
Dinge bei den russischen Behörden zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft
nahm das Bestehen einer Geheimverbindung an und erkannte den Tat-
bestand des § 128 Str GB. als vorliegend. Sie leitete deshalb in Königs-
berg eine Untersuchung ein, und es wurde eine große Masse von Büchern
gefunden sowohl in russischer wie in lettischer Sprache, die zu übersetzen
eine gewaltige Arbeit war. Ein Teil der Schriften bewegte sich im Gleise
sozialdemokratischer Ausführungen, der andere aber war hochverräterischen,
anarchistischen Inhalts. Der Abg. Haase hat im Reichstage behauptet, der
Absender der Schriften sei kein Anhänger der Propaganda der Tat und
des Terrors. Ich werde Ihnen aber einmal ein paar Stellen aus den
Schriften vorlesen. Bei Nawarotzki in Königsberg wurde eine Schrift ge-
funden „Wiedergeburt des Revolutionismus in Rußland“, in der es heißt.
„Die Aufgabe der Gegenwart bildet die Organisierung eines Zentralkomitees,
das uns dient als besonders exzitatives Mittel der Weiterverbreitung der
politischen Bewegung unter den Massen. Unsere Ansichten über den
Terror oder die politischen Morde, sind sie erforderlich? Nach unserer
Ansicht kann es nur eine Antwort geben: Jal“ In einer anderen Schrift:
„Die Volksfreiheit oder der Volksbeglücker“ finden sich folgende Stellen:
„... Ohne Kampf mit dem Zaren kann es in Rußland keinen ernsten
politischen Kampf geben ... unser Kampfprogramm muß in einem Punkte
gipfeln: in dem Zarenmord und dem systematischen, politischen Terror.
Das muß auch heute das Programm im Minimum bedeuten.“ Bei dem
Arbeiter Klein in Memel wurde eine Schrift gefunden „Nieder mit dem
Zaren!“ Darin heißt es: „... Schüsse sind erforderlich . . . Es bedarf
der alten Terroristen, der Apostel der Freiheit, des Blutes und der Rache
Wir sind revolutionär bis zur Militärverschwörung bis in den Palast..
(Die Namen der berühmtesten Terroristen werden aufgeführt.) Das Pro-