Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.) 59 
wesen, daß die Aufhebung des § 2 ein Gebot der politischen Zweckmäßig- 
keit wie der Billigkeit und die Gründe, auf die sich diese meine Auffassungen 
stützten, sind ungefähr die gleichen, welche der Abg. Bennigsen 1896 ent- 
wickelt hat. Ich brauche die damaligen Worte dieses Führers der national- 
liberalen Partei nicht zu verlesen, sie werden ihnen allen bekannt sein. 
Wenn behauptet ist, daß der Abg. Bennigsen diese Erklärung unter an- 
deren Umständen abgegeben hätte, so erinnere ich daran, daß 1897 der 
Abg. Marquardsen im Namen der nationalliberalen Partei erklärt hat, 
die Mehrheit seiner Partei würde für eine Aufhebung des § 2 stimmen. 
In demselben Sinne nahm bei der Diskussion über das Jesuitengesetz der 
Abg. Büsing Stellung, und diese Haltung der Nationalliberalen hat sich 
auch nicht geändert, als ich am 3. Februar vorigen Jahres meine Er- 
klärung abgab. Der Abg. Franken erklärte damals, wie ich annehme, im 
Namen der nationalliberalen Partei, er würde sich freuen, wenn die Auf- 
hebung des § 2 dazu beitragen würde, den religiösen Frieden zu fördern, 
und noch im vergangenen Sommer, im Juni vorigen Jahres, während 
die Wahlbewegung ihren höchsten Wellenschlag erreichte, erklärte der Führer 
der nationalliberalen Partei, Abg. Bassermann, in einer sehr beachtens- 
werten und sehr beachteten Wahlrede, die er damals in Karlsruhe hielt 
— diese Worte des Abg. Bassermann möchte ich noch verlesen, mit Rück- 
sicht auf die Angriffe, die hier gegen die königliche Staatsregierung ge- 
richtet worden sind —, er könne die Erklärung nicht abgeben, daß er 
künftighin gegen die Aufhebung des § 2 stimmen werde. Die national- 
liberale Partei habe ihren Mitgliedern freie Hand gelassen. Für Polizei- 
gesetze könne er sich nicht begeistern. Sei denn jetzt die Zeit für illiberale 
Ketzerrichterei gekommen, daß nur der § 2 des Jesuitengesetzes jetzt der 
Angelpunkt unserer Politik sei? Daß nur der ein freisinniger Mann sei, 
der gegen die Aufhebung dieses § 2 eintrete, daß nur der den unver- 
fälschten Liberalismus in seiner Brust trage? Jedenfalls hat die Partei, 
der der Herr Abg. Hackenberg angehört, bei jeder Abstimmung für die 
Aufhebung des § 2 gestimmt. Nun bin ich allerdings in liberalen Blättern 
der Behauptung begegnet, es hätten manche liberalen Abgeordneten nur 
deshalb für die Aufhebung des § 2 gestimmt, weil sie sich der stillen Hoff- 
nung hingegeben hätten, die Regierung würde auf diese Aufhebung nicht 
eingehen. (Heiterkeit.) Meine Herren, was soll ich da sagen? Ich ver- 
stehe es allenfalls, daß man auf dem Standpunkt steht, daß der parla- 
mentarische Apparat schädlich oder überflüssig ist. Aber wenn man, wie 
wir alle, auf verfassungsmäßig--konstitutionellem Boden steht, dann, meine 
Herren, kann man doch nicht einen Antrag einbringen, nicht für einen 
Antrag stimmen in der Erwartung, mit der stillen Hoffnung, mit der 
reservatio mentalis (Heiterkeit im Zentrum), die Regierung wird nicht 
darauf eingehen. Das ist ja beinahe jesuitisch, Herr Abgeordneter! (Große 
Heiterkeit.) Ich bin viel zu konstitutionell, als daß ich in Abstimmungen 
und Anträgen nicht immer die ernstliche Absicht sehen sollte, das Be- 
schlossene und Beantragte auch wirklich realisiert zu sehen. 
Also der Standpunkt, den ich in der Frage der Aufhebung des § 2 
eingenommen habe, entsprach durchaus dem Standpunkt, welchen die Mehr- 
heit der nationalliberalen Partei seit sieben Jahren und bis in die letzte 
Zeit eingenommen hat. Er entsprach auch dem Standpunkte, welchen die 
konservative Partei eingenommen hat. Sie wissen alle, meine Herren, daß 
unter dem Antrag die Namen der Herren Abgg. Graf Limburg, Frhr. 
v. Richthofen, die Namen des leider verstorbenen Herrn Abg. Graf Klinckow- 
ström, des von uns allen beklagten Herrn v. Levetzow und anderer hervor- 
ragender konservativer Abgeordneten standen. Und wer die konservativen
	        
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