Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März16.) 61 
wie es in einem evangelischen Staate möglich ist, so weit, aber auch nicht 
weiter — so weit, wie es möglich ist, ohne von den Rechten des Staates 
irgend etwas zu vergeben und die anderen Konfessionen im Staate zu ge- 
fährden. Wenn Sie die Lage der Katholiken in Deutschland vergleichen 
mit manchen anderen Ländern — ich nenne absichtlich keine Namen, aber 
auch in katholischen Ländern —, so glaube ich, Sie haben allen Grund, 
mit dieser Lage zufrieden zu sein und sie dankbar zu empfinden als Segen 
der Toleranz und ihrerseits ebenso überall Toleranz zu üben. 
Meine Herren! Der Herr Abg. Hackenberg hat auch gesagt, welche 
Grenzen die Rücksichtnahme auf die Wünsche der katholischen Bevölkerung 
haben würde, wo Halt gemacht werden würde. Ich nehme keinen Augen- 
blick Anstand, zu sagen, daß die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung 
des konfessionellen Friedens, die conditio sine qua non für die Aufrecht- 
erhaltung des konfessionellen Friedens die Respektierung der Hoheitsrechte 
des Staates ist. Diese wird die Staatsregierung nie, unter keinen Um- 
ständen, preisgeben, und gegenüber dem Abg. v. Heydebrandt betone ich, 
daß wir selbstverständlich auch weit davon entfernt sind, die katholische Be- 
völkerung besser zu behandeln als die evangelische. Ich hoffe aber, daß 
der Abg. v. Heydebrandt auch einverstanden sein wird, wenn ich sage, daß 
es eine ethische Ungerechtigkeit und ein politischer Fehler sein würde, die 
Katholiken schlechter zu behandeln als die Evangelischen. Beide Konfessionen. 
haben ganz gleichmäßigen Anspruch auf Schutz und Förderung von seiten 
der Staatsregierung. Nun weiß ich sehr wohl, wie verschieden die katho- 
lische Religion von unserer evangelischen ist. Ich weiß, daß die Verhält- 
nisse der beiden Konfessionen nicht über einen Leisten geschlagen werden 
können. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, wie Fürst Bis- 
marck gesagt hat, unablässig zu suchen nach Wegen, um eine notwendige 
Abgrenzung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt in einer die Ge- 
wissen möglichst schonenden Weise durchzuführen! Der Abg. Hackenberg 
hat auch gesprochen von den Imponderabilien, die nicht außer acht ge- 
lassen werden dürfen. Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt. Ich betrachte 
es als erste Pflicht der Regierung, dafür zu sorgen, daß die Gewissens- 
freiheit in keiner Weise bedroht wird, die geistige Freiheit, welche dem 
Deutschen teurer ist als jedes andere Gut. Ich halte es aber für einen 
Fehler, den Kampf für diese Güter in einer Weise zu führen, durch die 
ohne Not fremde Gefühle verletzt werden, und ihn zu führen mit Zwangs- 
waffen, die auf geistigem Gebiete selten einen dauernden Erfolg zeitigen. 
Ich mißbillige und hasse jede Unduldsamkeit, auch wenn sie glaubt, daß 
sie alles geistige Leben gepachtet habe, und jeden verdammt, der einer an- 
deren Wissenschaft huldigt. Und diese Unduldsamkeit findet sich nun bei 
denjenigen, die festhalten an der christlichen Religion. Von allen Seiten 
ist geklagt worden über die Kämpfe zwischen den Konfessionen. Ich habe 
mehr als einmal von dieser Stelle darauf hingewiesen, daß unter den Kon- 
fessionen und zwischen den Konfessionen und dem Staat grundsätzliche Gegen- 
sätze bestehen, die wir nie werden beilegen können. Aber wir müssen trachten, 
auf praktischem Gebiet zu einem friedlichen Nebeneinanderleben zu kommen. 
Wir müssen trachten, auf dem Gebiet der konkreten Tatsachen das Ein- 
vernehmen herzustellen, und suchen, daß wir da zu einer Verständigung 
kommen. Der Kampf der Lehren wird nicht aufhören. Was soll aber 
dabei herauskommen, wenn in der Weise, wie es in den letzten Wochen 
zu meinem Bedauern der Fall gewesen ist, dieser Kampf der Prinzipien 
auf das politische Gebiet übertragen wird? Ich halte es für eine der 
größten staatsmännischen Leistungen des Fürsten Bismarck, ich halte es für 
sein unvergängliches Verdienst, daß er es verstanden hat, den Kulturkampf 
 
	        
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