Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

82 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 13./16.) 
was auch danach kommen möge, wo die salus publica zur suprema lex 
wird. Aber im inopportunen Moment, tete baissée, darf eine solche 
Aktion nicht unternommen werden. Wir werden die bestehenden Gesetze 
gegenüber allen Uebergriffen ohne Schwäche aufrecht erhalten, wir werden 
jeden Versuch, die öffentliche Ordnung zu stören, mit Strenge unterdrücken, 
die Autorität des Staates, die Majestät des Gesetzes, die Sicherheit des 
Landes, den Bestand der Monarchie werden wir zu verteidigen wissen und 
verteidigen können, wer die antastet, der wird sich einen blutigen Kopf 
holen. Ich würde mich aber nicht für würdig halten, an der Stelle zu 
stehen, an der ich stehe, wenn ich von vornherein auf die Möglichkeit ver- 
zichten wollte, die tiefgehenden Gegensätze, die durch unser Volk gehen, 
durch Gerechtigkeit, Geduld und Besonnenheit auf friedlichem Wege zu 
lösen (Bravol) und indem wir die Sozialreform fortsetzen. Herr Graf 
von Mirbach hat soeben gesagt, daß die Sozialreform vielfach nur Un- 
dankbarkeit geschaffen hätte. Das darf uns nach meiner Ansicht nicht irre 
machen, weil in einem monarchischen Staat die Regierung das tun muß, 
was vor Gott und vor ihrem Gewissen für richtig und für recht erscheint. 
Es darf uns aber auch nicht irre machen, weil ich überzeugt bin, daß die 
Weiterführung der sozialen Reform auch politisch ihre Früchte tragen wird. 
Ich sage also, wenn wir die soziale Reform weiterführen, die ein Vorbild 
geworden ist für alle anderen zivilisierten Länder, so wahren wir uns das 
Recht, dann zu besonderen Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie über- 
zugehen, wenn diese uns durch ihr Verhalten dazu zwingt. Meine Herren, 
die Schuld liegt auch nicht allein am Wahlsystem. Vom Wahlsystem gilt 
ungefähr das, was der alte Klausner bei Shakespeare, ich glaube in „Romeo 
und Julia", von den Pflanzen und Kräutern sagt, nämlich, daß keine 
Pflanze so schlecht ist, daß sie nicht Gutes stiften könnte, und keine so gut, 
daß man nicht mit ihr auch Mißbrauch treiben könnte. Kein Wahlsystem 
ist an und für sich ganz gut oder ganz schlecht. Es wird gut oder schlecht 
durch den Gebrauch, den jemand davon macht. Wenn die deutschen Wähler 
von dem bestehenden Wahlsystem keinen richtigen Gebrauch zu machen 
wissen, so werden sie sich auch nicht wundern können, wenn früher oder 
später das Dilemma entsteht, ob sie den Zukunftsstaat mit seiner Zucht- 
hausordnung und seiner Güterverteilung über sich ergehen lassen sollen, 
oder ob das bestehende Wahlrecht durch ein anderes ersetzt werden soll.“ 
Kolonialdirektor Dr. Stübel: Auf die vom Abg. Bebel in der 
zweiten Lesung gestellten Fragen ist inzwischen eine telegraphische Antwort 
eingegangen, in der es heißt: „Ein Befehl, keine Gefangenen zu bringen, 
ist nirgends gegeben worden; auf Frauen und Kinder wurde nicht ge- 
schossen; die verwundeten Herero schießen bis zur Unschädlichmachung weiter 
oder werden von ihren Stammesgenossen fortgeschleppt; sonstige Gefangene 
werden vor das Kriegsgericht gestellt; es ist kein Fall von Vergewaltigung 
von Hererofrauen vorgekommen; von den Herero wurden drei weiße Frauen 
getötet, einige verwundet oder mißhandelt, kleine Kinder und Missionare 
geschont, die Engländer aus Politik geschont.“ Ueber die Mißhandlung 
von Frauen ist eine besondere telegraphische Korrespondenz mit dem Gou- 
verneur Leutwein geführt worden, deren Inhalt ich jederzeit zur Ver- 
fügung stelle. Die frühere Behauptung des Abg. Bebel, daß ein furcht- 
barer Haß gegen die Deutschen im Schutzgebiete bestehe, steht mit den 
Tatsachen nicht im Einklang. Es liegt ein Zeugnis der Missionare vor, 
gegen deren Vertrauenswürdigkeit der Abg. Bebel am wenigsten Einspruch 
erheben könnte. Was die Schonung von Frauen und Kindern seitens der 
Herero betrifft, ist zuzugeben, daß sich ein deutlicher Einfluß der Kultur 
auf die Wilden erkennen läßt; wenn die Schonung der Engländer einen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.