Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 9./16.) 83
politischen Hintergrund hat, so ist die Schonung der Missionare auf bessere
Regungen des Menschenherzens zurückzuführen. Ueber die Ursachen des
Aufstandes hat sich ein Missionar gegenüber Offizieren und höheren Be-
amten geäußert, daß zunächst eine Mißstimmung gegen die Besitzergreifung
des Landes gewesen sei und dazu wäre das ungerechte Verhalten von Far-
mern gegen Eingeborene hinzugekommen; man wird zugestehen müssen,
daß auf beiden Seiten gefehlt worden ist. Die Missionare haben genug
gewarnt, aber sie haben tauben Ohren gepredigt. Der Haß, die Falschheit
und die Unaufrichtigkeit der Herero haben das Verderben heraufbeschworen.
Daß der Krieg in den Grenzen einer zivilisierten Kriegsführung bleibt,
dafür ist uns Gouverneur Leutwein die unbedingte Bürgschaft gewesen.
Wir haben keinen Grund zu zweifeln, daß General v. Trotha in den Fuß-
tapfen Leutweins wandeln wird, und daß von seiten der Verwaltung mit
allen Mitteln hingewirkt wird, daß der Krieg ohne Grausamkeit geführt
wird. In diesem Sinne ist auch ein Telegramm vom Reichskanzler an
den Gouverneur v. Leutwein ergangen.
Am 13. Mai stellt Abg. Auer (Soz.) folgenden Antrag: „Den
Reichskanzler zu ersuchen, unbeschadet der Vorlegung des Reichs-Straf-
vollzugsgesetzes, bei den verbündeten Regierungen dahin zu wirken, 1. daß
in den Gefängnissen und Strafanstalten Maßnahmen getroffen werden,
welche geeignet sind, die rechtzeitige Feststellung körperlicher und geistiger
Erkrankungen der Gefangenen, sowie die Hilfeleistung in Erkrankungsfällen
zu sichern, 2. daß die Verhängung schwererer Disziplinarstrafen unter
Rechtsgarantie gestellt wird, 3. daß dem Reichstag jährlich eine Uebersicht
über die Zahl und Art und den Anlaß der in Gefängnissen und Straf-
anstalten verhängten Disziplinarstrafen vorgelegt wird.“ In der Begrün-
dung des Antrags richtet Abg. Gradnauer (Soz.) heftige Angriffe gegen
die Gefängnisverwaltungen, die von Staatssekretär Nieberding und Ver-
tretern sämtlicher bürgerlicher Parteien zurückgewiesen werden. Der An-
trag wird gegen die Stimmen der Sozialdemokraten abgelehnt.
Hierauf wird das Etatsgesetz mit folgendem Antrag Spahn (3.)
angenommen: „Insoweit die von den Bundesstaaten aufzubringenden Ma-
trikularbeiträge für das Rechnungsjahr 1904 219650000 Mark über-
steigen, wird der Reichskanzler ermächtigt, deren Erhebung für dieses
Rechnungsjahr auszusetzen, bis der zur Deckung des Bedarfs erforderliche
Betrag festgestellt ist.“
Der Etat balanciert mit 2034511548 Mark. Davon sind 1696161674
fortdauernde, 171861841 einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats,
166488033 einmalige Ausgaben des außerordentlichen Etats. 152065221
sind im Wege des Kredits flüssig zu machen.
9. Mai. (Berlin.) Es wird ein Reichsverband gegen die
Sozialdemokratie gegründet.
Der Verband will alle kaiser- und reichstreuen Deutschen ohne
Unterschied ihrer religiösen und politischen Stellung gegen die Sozial-
demokratie einigen und deshalb an geeigneten Orten feste Organisationen
schaffen, der Umsturztätigkeit der Sozialdemokratie in Wort und Schrift
entgegentreten, bei Wahlen auf ein gemeinsames Vorgehen aller bürger-
lichen Parteien hinwirken, den durch sozialdemokratischen Terrorismus be-
drängten Arbeitern und Gewerbetreibenden Hilfe gewähren.
9./16. Mai. (Bayerische Abgeordnetenkammer.) Kultus-
etat. Forschungs- und Lehrfreiheit.
Abg. Dr. Schädler (Z.) wünscht eine freie katholische Hochschule,
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