84 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 10.)
Kultusminister v. Wehner erklärt, ein solcher Gedanke liege der Regierung
fern. Abg. Schädler (Z.) polemisiert gegen die Universitäten, die den
Atheismus lehrten; zum Beweise zitiert er Schriften der Berliner Pro-
fessoren Behring, Paulsen, Förster, Kinsky, Zeller, Häckels in Jena, Wundt
in Leipzig u. a. Aus der Religionslosigkeit der akademischen Jugend folge
ihre Unsittlichkeit. Abg. Casselmann (lib.) verteidigt die Professoren
und tadelt den Versuch Schädlers, eine Statistik der Professoren nach ihrer
Konfession und staatlichen Zugehörigkeit aufzustellen. Kultusminister
v. Wehner erklärt auf mehrere Anregungen über die Freiheit der Wissen-
schaft: Unsere Universitäten sind Pflegestätten der Wissenschaften und der
wissenschaftlichen Forschung. Die Wissenschaft aber bedarf der Freiheit und
es beruht die Blüte und das Ansehen unserer Hochschulen auf dieser Frei-
heit. Dem forschenden Geiste des Gelehrten kann die Regierung keine
Zügel antun, sie hat nicht die Aufgabe, Kontrolle zu üben über die Wege
und Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung. (Sehr richtig! links.) Sie
kann wissenschaftliche Werke ihrer Zensur nicht unterstellen, der forschende
Geist kann nur durch einen anderen Forscher bekämpft und widerlegt
werden, nicht durch staatliche Aufsicht. Dieses Haus ist kein Areopag über
Gelehrte und dem Lehrer kann seine wissenschaftliche Ueberzeugung nicht
wohl vorgeschrieben werden. Es gibt nur ein wirksames Mittel, um
gegen einen Gelehrten aufzukommen, und das ist die Widerlegung der von
ihm aufgestellten Sätze. Anders als die Freiheit der Forschung ist die
Freiheit der Lehre. In dieser Hinsicht wird nicht bloß auf konservativer
Seite, sondern auch auf liberaler Seite anerkannt, daß der Lehrfreiheit
gewisse Schranken gezogen sind. Nicht bloß die Sittlichkeit und das Staats-
interesse bedingen solche Grenzen, sondern auch die Rücksicht auf die öffent-
liche Stellung, welche dem Hochschullehrer anvertraut ist. Die religiösen
Gefühle der Jugend dürfen an den Hochschulen nicht verletzt werden, der
Glaube, welchen die jungen Leute vom elterlichen Hause und von der
Schule mitbringen, darf nicht untergraben werden. Ich gehe aber nicht
so weit, zu verlangen, daß den jungen Leuten vom Katheder nur fest-
stehende Tatsachen mitgeteilt werden und daß Hypothesen, welche die
Grundlage der wissenschaftlichen Forschung sind, vom Katheder ferngehalten
werden müßten, aber das kann man verlangen, daß solche Hypothesen und
Probleme, namentlich wenn sie mit den Grundlagen des Christentums in
Widerspruch stehen, nicht als feststehende Tatsachen vorgetragen werden,
sondern als unfertige, in Fluß befindliche Theorien, als das subjektive
Ergebnis der Forschung, das eine andere Lösung nicht ausschließe. Ich
kann aber konstatieren: Es liegt mir gar kein Anhaltspunkt vor, daß irgend
ein bayerischer Hochschullehrer darauf ausgehe, in seinen Vorlesungen den
Glauben seiner Hörer irgendwie zu erschüttern. Ich habe bereits im Finanz-
ausschuß in dieser Hinsicht das Zeugnis eines Klosteroberen angeführt.
10. Mai. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Ansied-
lungsgesetz.
Das Gesetz behandelt die Verteilung der öffentlichen Lasten bei
Grundstücksteilungen und die Gründung neuer Ansiedlungen in den Pro-
vinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien,
Sachsen und Westfalen. Am meisten umstritten ist § 13b. Er lautet nach
den Beschlüssen des Herrenhauses: Die Ansiedlungsgenehmigung ist im
Geltungsgebiet des Gesetzes, betreffend die Beförderung deutscher Ansied-
lungen in den Provinzen Westpreußen und Posen, vom 26. April 1886 zu
versagen, solange nicht eine Bescheinigung des Regierungspräsidenten vor-
liegt, daß die Ansiedlung mit den Zielen des bezeichneten Gesetzes nicht