Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 13.) 87
regiment — das würde die Dinge vergiften —, am wenigsten durch eine
Erneuerung des Sozialistengesetzes. Ich muß sagen, dieses hat mehr ge-
schadet als genützt. (Unruhe rechts.) Jetzt jedenfalls liegen die Dinge so,
daß ich eine Erneuerung für den größten Fehler halten würde. Blicken
Sie doch auf die anderen Länder. Die Spinnereien wurden während des
Chartismus mit Kanonen besetzt. Das alles hat sich gegeben, vor allem,
weil Disraeli auf seiten der Arbeiter trat und die Sozialgesetzgebung in
die Hand nahm. Dadurch gewannen die Arbeiter wieder Vertrauen zu
den Tories und stimmten jahrelang für diese. Ja, wenn wir einmal eine
solche Aristokratie hätten, dann ließe sich das machen. Eine gerechte Re-
gierung über den Klassen ist das Richtige. Und wenn die Regierung heute
so vorgeht, so gebe ich vollkommen zu, daß das nie den Erfolg verbürgen
kann; aber noch weniger gebe ich zu, daß eine Gewaltpolitik diese ver-
bürgen kann. Alle großen Reformatoren hatten eine Doppelpolitik ver-
folgt, zunächst und vor allem haben sie versucht, den besitzenden Klassen
die Sicherheit ihres Eigentums zu geben; dann aber haben sie den arbei-
tenden Klassen gezeigt, daß sie eine billige schiedsrichterliche Gewalt seien.
Damit, glaube ich, kann und muß eine Umwandlung der Sozialdemokratie
in einem bis zwei Menschenaltern gelingen. Die Revisionisten beherrschen
heute schon die Partei, und in dieser jüngeren Generation wird sich bald
ein neuer Geist zeigen. Ferner, wie ist es möglich, die Arbeiterkoalitionen
zu verbieten in einer Zeit, wo sich alles koaliert? Vor allem kommt es
darauf an, die Führer vernünftig zu machen, zu Leuten zu machen, mit
denen sich verhandeln läßt. Der frühere Finanzminister v. Miquel hat
immer und immer wieder gesagt, als er Oberbürgermeister war: „Ich
komme sehr gut mit ihnen aus.“ Das ist die Weise, wie die unteren
Klassen lernen müssen, mit zu verwalten und mit zu beraten, dann werden
sie sich wandeln. Kompromisse zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen
Parteien seien oft vorgekommen, z. B. in Torgau mit den Freikonservativen;
bei der letzten Landtagswahl hätten unter Teilnahme von Professoren Er-
wägungen darüber stattgefunden, aber zu einem Resultat sei es nicht ge-
kommen. v. Wedel-Piesdorf: Er glaube nicht an einen Erfolg der jetzigen
Politik gegen die Sozialdemokratie und hoffe, daß die Liberalen allmählich
die Hand zur Aenderung des Wahlrechts bieten würden.
Am 16. Mai wird das Etatsgesetz angenommen.
13. Mai. (Reichslande.) Ende des Famecker Friedhofs-
streites.
Der Bischof Benzler von Metz verhängt über den Kirchhof von
Fameck das Interdikt wegen der Beerdigung eines Protestanten (März).
Diese Verfügung wird in der Presse scharf angegriffen; am 16. März wird
im Landesausschuß darüber interpelliert, wobei Unterstaatssekretär Petri
das Vorgehen des Bischofs für ungesetzlich und kirchlich bedenklich erklärt.
— Am 13. Mai zieht der Bischof das Interdikt zurück.
13. Mai. Reichstagswahl.
Bei der Nachwahl in Frankfurt-Lebus erhält Bassermann (nl.) 11747,
Braun (Soz.) 11407, v. Jagewitz (Bd. d. Ldw.), 2872 Stimmen. Bei der
Stichwahl am 20. Mai erhält Bassermann 14385, Braun 11882 Stimmen.
— Die sozialdemokratische Stimmenzahl ist seit 1903 um 2800 gesunken.
Der Bund der Landwirte wird wegen seiner Sonderkandidatur heftig an-
gegriffen.
13. Mai. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Antrag