Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 14.) 91
14. Mai. (Reichstag.) Erste Beratung des Entwurfs zur
Entlastung des Reichsgerichts.
Der Entwurf beabsichtigt eine Einschränkung des Rechts der Be-
schwerde an das Reichsgericht und eine Erhöhung der Revisionssumme von
1500 auf 3000 Mark mit der Maßgabe, daß auch Sachen von 2000 Mark
die Revisionsfähigkeit an das Reichsgericht besitzen, wenn die Urteile der
Vorderrichter voneinander abweichen.
Staatssekretär Dr. Nieberding: Das Reichsgericht sei so überlastet,
daß beim Zivilsenat die Hälfte der Prozesse, 1415, beim Schluß des letzten
Geschäftsjahres unerledigt geblieben sei. Es vergingen jetzt meist 8 bis
10 Monate, bevor die neu eingehenden Sachen überhaupt zur Verhandlung
kommen, und es ist bei der erheblichen Vermehrung der neu eingehenden
Sachen gar kein Zweifel, daß diese 8 bis 10 Monate sich weiter auf 11
und in kurzer Zeit sogar auf 12 Monate steigern werden. Das einzige
Mittel zur Abhilfe sei die Erhöhung der Revisionssumme. Die entschei-
dende Frage, um die es sich handelt, ist die, wird durch die Vorlage in
der Tat die Rechtspflege geschädigt? Ich verneine diese Frage. Das
Reichsgericht fällt zur Zeit in Rechtsstreitigkeiten jährlich rund 2400 Ur-
teile. Dabei wird in 1900 Fällen die Revision zurückgewiesen, in 500
Fällen hat sie Erfolg. Aber unter diesen 500 Fällen sind es wiederum
nur etwa 330 Fälle, die einen materiellen Effekt zum Nutzen des Revisions-
klägers haben, während es sich bei den übrigen nur um prozessuale Dinge
oder formale Dinge handelt. Die Erhöhung der Revisionssumme würde
die Folge haben, daß von diesen 330 Prozessen in Zukunft 75 bis 80 Pro-
zesse pro Jahr ausscheiden. Darum dreht sich der ganze Streit. Ich glaube
nicht, daß man sagen kann, diese 75 bis 80 Prozesse haben einen so erheb-
lich durchschlagenden Wert, daß man zu ihren Gunsten die wirklich auf die
Dauer unhaltbaren Zustände am Reichsgericht in Kauf nehmen müßte.
Und noch verschwindender wird die Zahl, wenn man bedenkt, daß ins-
gesamt 2,3 Millionen Entscheidungen in vermögensrechtlichen Streitigkeiten
alljährlich in Deutschland von Amts- und Landgerichten gefällt werden.
In Frankreich hat man die kleineren Sachen vom obersten Gerichtshofe in
einem Umfange fern gehalten, wie wir es Ihnen vorzuschlagen gar nicht
wagen würden.
In der Beratung erklären mehrere Redner die Erhöhung für sozial-
politisch bedenklich. Die Vorlage wird an eine Kommission verwiesen.
14. Mai. (St. Johann-Saarbrücken.) Das Kaiserpaar
nimmt teil an der Enthüllung eines Kaiser Wilhelm-Denkmals.
Auf die Ansprache des Bürgermeisters von St. Johann erwidert
der Kaiser:
Ich bitte Sie, Herr Oberbürgermeister, der Dolmetsch zu sein des
Dankes der Kaiserin und Meines eigenen für den Empfang, den Mir die
Stadt St. Johann bereitet hat. Ihre köstliche Ausschmückung, die freu-
digen Gesichter der Bürger aller Stände und jeden Alters, Uns entgegen-
leuchtend in freudiger Bewegung ihrer Herzen, der Jubelruf aus ihrem
Munde erweckt Freude und Dankbarkeit; und auch darüber bitte ich Meine
herzliche Freude der Bürgerschaft auszudrücken, daß Ich in ihren Mauern
hier weilen konnte, und zu gleicher Zeit Meinen Glückwunsch auszusprechen
zu der vortrefflichen Entwicklung, die die Stadt St. Johann genommen
hat und nimmt. Ringsum die rauchenden Schlote zeugen davon, daß hier
Arbeit und Fleiß ihre Stätte gefunden haben. Und nicht zum mindesten