70 Na Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (März 23.)
Erscheinung hat mich doch schwankend gemacht und mich schließlich ver-
anlaßt, Ihnen diese Maßregel nicht vorzuschlagen, weil damit nichts ge-
bessert würde. Nun hat der Abg. Brömel bei anderer Gelegenheit mir
gesagt, daß das, was seine Freunde forderten, doch etwas ganz anderes,
weit besseres sei. Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal und aus-
drücklich feststellen und wiederholen, daß die Adoption des Reichstagswahl-
rechtes für uns unannehmbar ist! Wer die Expektorationen der Parteien
und der Presse über die Wahlrechtsfrage während dieser letzten Jahre und
namentlich der letzten Wochen verfolgt hat, dem hat sich ein eigentümliches
Bild dargeboten. Auf der einen Seite eine vernichtende Kritik über unser
Dreiklassenwahlrecht, gestützt auf Unebenheiten dieses Systems und gestützt
vor allem auf das scharfe Urteil des Fürsten Bismarck. Auf der anderen
Seite Anklagen gegen uns arme Mitglieder der Staatsregierung, daß wir
noch immer nicht fertig gebracht haben, ein ideales Wahlrecht für Preußen
zu ersinnen, daß wir das Volk mit einem Notgesetz abspeisen wollen.
Wenn es mir glücken sollte, durch Gesetz Nöte des Volkes abzustellen und
die bestehenden Gesetze in einem vorurteilsfreien und wirklich menschlichen
Geiste handhaben zu lassen, dann werde ich mir daran einstweilen genügen
lassen, weil der Geist noch immer etwas mehr ist wie die Form. Die
Forderung des Reichstagswahlrechts und die Vorwürfe über die Erfindungs-
armut der Regierung werden dem Ernst der Situation nicht gerecht. In
gewissem Sinne beneide ich die Anhänger des Reichstagswahlrechts, es ist
so furchtbar einfach, die Schablone ist vorhanden, nach der man ohne sehr
viel Arbeit ein neues Gesetz würde vorlegen können, und man kann sich
dabei auf Deutschlands größte Zeit und auf Deutschlands größten Staats-
mann berufen. Aber wie waren damals die Zeiten? Eine Nation, bis
dahin zerklüftet in Uneinigkeit und Unentschlossenheit, belastet auch mit
manchen Vorurteilen, hatte sich endlich auf sich selbst besonnen, sie hatte
auf den Schlachtfeldern die größten Opfer gebracht, und ihrem Kraftgefühl
entsprach das unbedingte Vertrauen, mit der die Geschicke des Reichs in
die Hände der Wähler gelegt wurden. Man muß offen und ehrlich sein,
es wäre Heuchelei, es zu leugnen, daß ein bitteres Gefühl der Unlust auf
unserem öffentlichen Leben lastet. Dieses Gefühl der Unlust — rührt es
davon her, daß wir in Preußen noch nicht das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht haben? Es besteht ja auch im Reiche, wo wir doch
dieses angebliche ideale Wahlrecht besitzen. Ein Zusammenhang besteht
aber nach meiner Ueberzeugung in einem ganz anderen Sinne. Wenn
die Geschichte einmal das Verdikt über das letzte Zeitalter abgeben wird,
wird sie rühmend hervorheben, daß ein Grundzug unseres Zeitalters der
ist, die armen Schichten der Bevölkerung in etwas erhöhtem Grade an den
Segnungen der Kultur und Zivilisation teilnehmen zu lassen; aber sie wird
uns nicht den Tadel ersparen können, daß wir bei diesem Bestreben in
einen gewissen Konflikt von Stimmungen geraten sind. Es ist etwas
durchaus Ungesundes, es ist ein Unheil, daß wir jede politische Aktion
abhängig machen von den Wirkungen, die sie auf die Sozialdemokratie
ausübt. Es ist ein Unheil, daß die großartigen, sozialpolitischen Institu-
tionen zu parteipolitischen Interessen mißbraucht werden. Es ist ein Un-
heil, daß unsere Presse nicht mehr in ihrer großen Gesamtheit das Echo
einer selbständigen und unabhängigen Parteipolitik bildet, sondern daß sie
umgekehrt, wenigstens teilweise, eine Diktatur über die Partei auszuüben
beginnt, die nicht weit von der Rücksicht auf die aurn popularis ist. Ich
möchte nicht mißverstanden werden: ich erblicke in dem Streben der
Schwachen des Volkes, emporzustreben, ein großes, vielleicht das größte
und edelste Gesetz der Menschheit, und auch an der Verwirklichung dieses