Bie Uerreichischungarische Monarchie. (September Ende.) 211
Ende September. (Wien.) Der russische Minister des Aus-
wärtigen Iswolsky konferiert mit dem Frhrn. v. Ahrenthal über
die Balkanfragen. Am 30. berichtet das K. K. Telegraph. Korre-
spondenzbureau hierüber:
Die Begegnung zwischen Herrn v. Iswolski und Frhrn. v. Aehrenthal,
welche den Charakter größter Herzlichkeit in sich trug, bot diesen beiden
Staatsmännern Gelegenheit zu einem Meinungsaustausch, welcher die
politischen Verhältnisse Europas im allgemeinen und ganz insbesondere
jene Fragen umfaßte, auf die sich das Einvernehmen der beiden Kabinette
hinsichtlich des Balkans bezog. Der Ausdruck dieses Einvernehmens war
das Programm von Mürzsteg. Seit damals haben sich die beiden Re-
gierungen fortgesetzt bemüht, es zur Durchführung zu bringen, und
besonders in der letzten Zeit ist in dieser Richtung ein wichtiger Schritt
geschehen. Die Botschafter von Oesterreich-Ungarn und Rußland in Kon-
stantinopel haben ihren Kollegen einen Entwurf mitgeteilt, welcher die
Verbesserung der Rechtslage in den makedonischen Wilajets betrifft, und
der gegenwärtig von den Vertretern der Mächte geprüft wird. Die
Unterstützung, welche das von den beiden Regierungen unternommene
Werk bei den anderen Kabinetten gefunden hat, die versöhnlichen Absichten,
von welchen sie alle getragen sind, bieten eine Bürgschaft dafür, daß die
gegenwärtig in Konstantinopel gepflogenen Besprechungen zu einer Verein-
barung führen werden, welcher die Pforte alles Interesse hätte, sich anzu-
schließen. Um das Werk der Pazifikation in Makedonien zu erleichtern
und die zahlreichen Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich ihm entgegen-
setzen, haben sich die beiden Minister ferner über eine Demarche geeinigt,
mit welcher ihre Vertreter bei den Balkanstaaten betraut würden. Der
Zweck dieses Schrittes, welcher ohne Verzug zur allgemeinen Kenntnis
gebracht werden soll, ist, einer irrtümlichen Interpretation des dritten
Punktes des Mürzsteger Programms ein Ende zu machen und dadurch
den Agitatoren jeden Vorwand zur Entfachung des bedauerlichen Kampfes
zwischen den christlichen Nationalitäten Makedoniens zu nehmen. Die
Vertreter Oesterreich-Ungarns und Rußlands in Athen, Belgrad und Sofia
haben folgende Weisung erhalten: „Der blutige Kampf zwischen den christ-
lichen Nationalitäten, dessen Schauplatz in den letzten Jahren Makedonien
ist, mußte notwendigerweise die ernste Aufmerksamkeit der an dem Reform-
werke beteiligten Mächte auf sich lenken. Seit einiger Zeit haben die
ursprünglich gegen die ottomanische Regierung operierenden christlichen
Banden ihre Richtung geändert und ihre terroristische Tätigkeit gegen die
Christen selbst gekehrt, um sie zu zwingen, ihre Nationalität und ihre
Religion aufzugeben und jene anzunehmen, für welche die Banden eintraten.
Zahlreiche Symptome, vor allem die ausdrücklichen Kundgebungen der
revolutionären Komitees und der Balkanpresse scheinen zu zeigen, daß
diese verbrecherische Bewegung mindestens zum Teil durch eine irrtümliche,
aber leider sehr verbreitete Interpretation des Artikels 3 des Mürzsteger
Programms hervorgerufen ist, welcher lautet: „Sobald eine Beruhigung
des Landes festgestellt sein wird, ist von der ottomanischen Regierung eine
Aenderung in der territorialen Begrenzung des Verwaltungsbezirks im
Sinne einer regelmäßigeren Gruppierung der verschiedenen Nationalitäten
zu verlangen.“ Indem die revolutionären Komitees die Angriffe gegen
die ottomanische Regierung auf ihrem Aktionsprogramm ausschlossen und
an ihre Stelle die nationale Rivalität setzten, handelten sie offenbar in
der Absicht, die territoriale Sphäre ihrer Nationalität zu erweitern in der
Hoffnung, daß diese Ausdehnung, wenn auch viel mehr künstlich und durch
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